Unter goldenen Schwingen
anzugreifen«, sagte er. »Das bedeutet, dass du ihn länger ertragen musst.«
»Ich weiß. Es geht mir nur um Nathaniels Sicherheit.«
Ein seltsamer Ausdruck trat in Ramiels Augen.
»Warum erzählst du das alles mir? Warum hast du nicht Seraphela gerufen? Sie ist dein Gefühlsengel.«
»Bist du genauso blind wie Nathaniel? Sera hasst mich!«
»Sera hasst dich nicht. Es liegt nicht in unserer Natur, unseren Schützling zu hassen.«
Ich schüttelte ungeduldig den Kopf. »Merkst du denn nicht, wie sie sich mir gegenüber verhält? Ich bilde mir das doch nicht ein.«
»Das habe ich nicht behauptet. Ich habe nur gesagt, dass Sera dich nicht hasst . Ihre kalte, abweisende Haltung dir gegenüber ist aber offensichtlich.« Ramiel blickte mich in seiner ruhigen, durchdringenden Art an.
Ich verstummte überrascht.
»Oh«, murmelte ich schließlich. »Ja. Genau das meine ich. Warum tut Nathaniel dann so, als würde ihm das gar nicht auffallen?«
»Ich denke, Nathaniels Aufmerksamkeit gilt vor allem dir«, erwiderte Ramiel behutsam. »Ich selbst konnte mir Seras Verhalten nicht erklären, jedenfalls nicht bis zu diesem Moment. Aber ich denke, ich verstehe jetzt, warum sie so zornig ist.«
Er sah mich eindringlich an. »Was du für Nathaniel empfindest, bringt ihn in höchste Gefahr. Es bringt uns alle in höchste Gefahr.«
Ich schluckte trocken. »Sera weiß … von meinen Gefühlen?«
Ramiel schüttelte den Kopf. »Der Schild schirmt deine Gefühle für Nathaniel vor allen Engeln ab. Aber Sera ist … sehr intuitiv. Und sie ist dein Gefühlsengel. Vermutlich ahnt sie schon länger, in welcher Gefahr ihr schwebt. In welcher Gefahr wir alle schweben. Sie sorgt sich um uns alle.«
Schuldbewusst trat ich von einem Fuß auf den anderen. »Es tut mir leid, wenn ich euch … «, murmelte ich, doch Ramiel brachte mich mit einer sanften Geste zum Schweigen.
»Du brauchst nicht um Verzeihung zu bitten. Anders als Seraphela weiß ich, dass deine Gefühle nichts mit deinem Verstand zu tun haben. Es ist keine Entscheidung, die du bewusst getroffen hast. Es ist einfach geschehen.«
»Danke«, sagte ich leise.
»Du musst zurück.« Ramiel wandte sich Kasters Haus zu. »Adalbert kann Nathaniel nicht mehr lange ablenken.«
»Bitte«, drängte ich, »tu alles, was möglich ist.«
»Ich verspreche es.«
Bevor ich losrannte, ergriff ich Ramiels Hände, und drückte sie dankbar. Er ließ es überrascht geschehen. Dann drehte ich mich um und lief zurück zum Badezimmerfenster.
Ich liebe ihn. Ich liebe ihn. Ich liebe ihn …
Ich stemmte mich durch den Rahmen ins Bad und atmete tief durch. Dann ging ich wieder ins Wohnzimmer.
Kaster hatte gerade seinen Satz beendet.
»Können wir gehen?«, fragte ich. »Wir haben Herrn Kaster schon genug Zeit gestohlen.« Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke zu. Dann drängte ich Nathaniel zur Tür hinaus, drehte mich nochmals zu Kaster um und formte mit den Lippen ein lautloses ›Vielen Dank‹.
Auf dem Weg zum Parkplatz griff Nathaniel nach meiner Hand. Ich entzog sie ihm und steckte meine Hände in die Jackentaschen.
»Bist du böse auf mich?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. »Was haben Ra und Sera gesagt?« Ich bemühte mich, mir nichts anmerken zu lassen.
»Sie werden nach Lazarus suchen«, erwiderte er stirnrunzelnd. »Ist alles in Ordnung?«
»Sicher«, sagte ich mit einem wenig überzeugenden Lächeln.
Er blieb stehen und breitete seinen Flügel vor mir aus, so dass ich nicht weitergehen konnte. Ich starrte auf die Mauer aus glitzerndem Weiß und Gold und schwieg.
»Victoria«, sagte er leise. »Sieh mich an.«
Ich zwang mich, in sein schönes Gesicht zu blicken. Er musterte mich sorgenvoll.
»Ich musste mit den beiden allein sprechen«, sagte er. »Es war zu deinem Schutz. Sei nicht böse mit mir.« Er wollte meine Wange berühren, doch ich fing sein Hand ab.
Und das ist zu deinem Schutz , dachte ich traurig. Meine Gefühle sind nicht gut für dich.
Der Schild schien meine Gedanken von ihm fernzuhalten, denn er schien keinen Verdacht zu schöpfen.
»Lass uns gehen«, sagte ich leise und ließ seine Hand los.
Ich war froh, auf der Heimfahrt allein im Wagen zu sitzen, denn der Schmerz in seinen Augen hatte mir die Kehle zugeschnürt.
Als ich die Wohnung betrat, fühlte ich mich furchtbar. Ich warf meine Jacke auf den Kleiderständer und streifte meine Schuhe ab. Mein Inneres krampfte sich zusammen und fühlte sich an wie ein kalter Knoten.
Ich erkannte
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