Unter Trümmern
Dorle.“
Franzi wunderte sich, mit welcher Vehemenz sich ihre Freundin weigerte, den Tod ihres Sohnes offiziell zu machen. Aber so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte den Grund dafür nicht herausfinden. Dorle weigerte sich beharrlich, über die Ereignisse an jenem Abend zu erzählen, vor allem, wie sie an die Zutaten für die Lewwerknepp gekommen war.
Nur einem Argument schien Dorle mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
„Aber Rolf muss doch in ein Grab. In geweihte Erde. Sonst kommt er nicht in den Himmel und seine Seele bleibt unerlöst.“
Als Franzi ihr dies zum ersten Mal vortrug, zog sie sich zurück in den Keller. Franzi vermutete, dass sie Zwiesprache mit Rolf hielt. Zwei Stunden später stand sie wieder in der Küche und sagte nichts. Aber nach dem vierten oder fünften Anlauf, Franzi war schon völlig erschöpft vom vielen Reden, stimmte Dorle endlich zu.
Das war am Sonntagabend und noch am Montagmorgen fürchtete Franzi, dass die Freundin einen Rückzieher machen würde. Deshalb war sie schon sehr früh bei ihr, kochte ihr einen Kräutertee und begleitete sie bis vors Rathaus, um ganz sicher zu sein, dass sie nun endlich Rolfs Tod meldete.
23. – 26. März
IX
Am Montagmorgen fühlte sich Koch noch genauso beschissen wie am Freitagabend, nur, dass er jetzt verschwitzt war und sein Kopf dröhnte. Getrunken hatte er, stumpf dagesessen, abwechselnd die Wand oder die Decke angestarrt, hatte vergeblich versucht, Heinrich Manns Roman weiter zu lesen, fiel immer wieder in einen unruhigen Schlaf, in dem ihn wirre Träume begleiteten. Und zwischendurch ständig der Gedanke, nach Frankreich zurückzufahren, Émile zu sehen. Er hatte Sehnsucht nach seinem kleinen Sohn. Beatrice wäre sicher nicht begeistert, aber er wusste, dass ihre Eltern sich ebenso freuen würden wie Raymond. Dort wäre er aufgehoben in einer Familie, in der viel gelacht und in der nachts lange zusammen gesessen wurde, in einem Landstrich, in dem die Winter kürzer und nicht so hart waren. Und der Wein besser. Was hielt ihn hier in diesem kalten Land, in dem sein Vater ermordet worden war und er nicht einmal wusste, wo er lag? In dem man ihm oft genug zu verstehen gegeben hatte, dass man einen wie ihn nicht brauchte, dass einer wie er nur störte. Da konnten ein Falter und ein Reuber ihm noch so viel Honig ums Maul schmieren, er wusste, was man von ihm hielt und welche Menschen noch immer das Sagen hatten. Oder bald wieder haben würden.
Irgendwann am Samstag hatte es an seiner Tür geklopft, Koch nahm an, dass es Bresson war, vielleicht von der Angst getrieben, dass er ihn anzeigte. Es dauerte, bis er sich dazu aufgerafft hatte, sein Bett zu verlassen. Im Hausflur war niemand, dafür stand eine Flasche vor der Tür, eine große Flasche, wie die, die sein Nachbar bei seinen nächtlichen Besuchen unter seinem Sessel hervorzog. Mit den Zähnen zog Koch den Korken vom Flaschenhals und roch an dem Inhalt. Hochprozentig. Ein durchsichtiger Bestechungsversuch, aber das war Koch egal. Der Schnaps kam gerade richtig. Und noch bevor er die Tür hinter sich schloss, hatte er den ersten Schluck getrunken.
An diesem Montag würde er nicht ins Büro gehen. Falter würde es verstehen und Arnheim war wahrscheinlich froh ihn nicht zu sehen. Er würde es sich merken, um wieder etwas gegen ihn in der Hand zu haben, wenn er ihn endgültig loswerden wollte. Aber vielleicht erledigte er das ja auch selbst.
Gegen Mittag kroch Koch aus dem Bett, wusch und rasierte sich, danach setzte er Wasser auf, das er über etwas goss, das entfernt an Kaffee erinnerte.
Wenigstens ein paar Tage nach Frankreich fahren, wo er über sich und seine Zukunft nachdenken und eine Entscheidung treffen wollte. Als er seinen Becher geleert hatte, packte er ein paar Kleidungsstücke in einen kleinen Koffer, steckte seinen Ausweis ein, zog sich seinen Mantel über und verließ das Haus. Er konnte es nicht lassen, an Bressons Tür zu lauschen. Kein Laut drang hinaus auf den Flur.
Draußen war er überrascht, dass die Sonne schien. Sie stand hoch und hatte die Luft merklich aufgewärmt, aber Koch war jetzt nicht nach dem aufziehenden Frühling. Er wollte weg aus dieser Stadt, wollte die letzten Tage vergessen, wollte sich über sein Leben klar werden. Und hatte das Gefühl, dass ihm das hier, in Mainz, nicht gelingen würde. Schnellen Schrittes ging er durch die Zahlbach und am Binger Schlag vorbei zum Hauptbahnhof und ignorierte die Blicke der Leute, die ihm begegneten.
Vor dem
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