Unterm Messer
schleppen. Den Blumenstrauß haben wir dem Kalb geschenkt. Es hat noch einmal „Muuuhuu“ gemacht und dann begonnen, daran zu kauen. Irgendetwas sticht durch meine Jeans. Brombeerranken. Ich kann ihnen in der Dunkelheit nicht rechtzeitig ausweichen. „Ein Weg!“, höhne ich. Vesna ist ein kleines Stück vor mir, aber auch sie kommt nicht eben schnell voran. „Wir werden uns verirren“, ächze ich. Andererseits: Ich habe auch keine Lust, wieder zurück zum Hof zu gehen, zu den muskulösen und ach so aktiven Schweinen und Schafen. Wer weiß, wie viele Muskeln der Bauer hat?
Vesna wartet, bis ich ihr nachgekommen bin. Oder will sie bloß verschnaufen? „Wir müssen nur Hang hinauf und dann rechts bleiben. Wald ist zu klein zum Verirren“, sagt sie. Kein Wald ist so klein, als dass ich mich nicht darin verirren könnte. Hoch über unseren Köpfen fliegt etwas auf. Gewaltiges Vieh. Wir hören Flügelrauschen. Sonst nichts.
„Eine Eule“, vermutet Vesna. Frau Försterin persönlich. Welche Tiere sind eigentlich noch in diesem Wald unterwegs? Wildschweine. Sicher. Wenn sie Junge haben, greifen sie an.
„Wann kriegen Wildschweine Junge?“, frage ich Vesna.
„Nicht gerade jetzt“, antwortet sie.
„Aber wenn sie schon welche haben: Sie müssen sie verteidigen“, versuche ich ihr zu erklären. Mira und Vesna im Dschungel des Vulkanlands. Meine Freundin zieht mich weiter. Eine kleine Lichtung. Jetzt kommen wir besser vorwärts. Bald könnten wir es geschafft haben. Ich gehe tapfer hinter Vesna durchs hohe Gras. Verwaschenes Mondlicht. Da fliegt wieder etwas auf. Dichter Schwarm. Insekten. Gelsen. Nein, nicht auch das noch. Ich schlage um mich, die Bestien haben sicher schon lange kein Opfer mehr gehabt. Sie stechen mich durch die Jeans, in die Wange, hinter das rechte Ohr.
„Geh schneller, dann du hast Viecher gleich vorbei“, keucht Vesna. Auch sie schlägt um sich. Wieder hinein ins Dickicht. Ein Teil der Blutsauger dürfte satt sein. Die Gelsen werden weniger. Aber warum hört der Wald nicht auf? Wir müssten längst bei der Wiese am Swimmingpool der Tante sein.
Inzwischen versuche ich gar nicht mehr, irgendwelche kleinere Büsche zu umgehen, ich trample einfach drüber. Weiter. Vesna ist schon wieder ein schönes Stück vor mir. Sie bleibt stehen und deutet nach vorne. Haben wir es endlich geschafft? Oder lauern dort die Wildschweine? Hat es nicht auch geheißen, dass bisweilen von Ungarn her Wölfe in die Steiermark überwechseln? Dann müssten sie allerdings auch durch ein Stück Burgenland. Oder hat sich das, was ich da mitbekommen habe, auf Slowenien und Kärnten bezogen? Nein, dort gibt es Bären. Und Politiker, die einem einen Bären aufbinden. Ich stolpere über Gestrüpp, strauchle, es gelingt mir gerade noch, nicht zu fallen. Keine Lust, in kratzige Äste und Dornen zu greifen. Meine Beine werden schlimm genug aussehen. Kann es sein, dass es heller wird? Wieder eine Lichtung? Ich hetze die paar Meter zu Vesna. Waldrand. Dahinter Wiese. Wir sind zu weit nach Westen gegangen. Das Quartier bei der Tante liegt gute fünfhundert Meter entfernt schräg unter uns. Aber das ist wirklich kein Problem. Wir haben den Laptop. Keiner hat uns verfolgt. Wir brauchen nur noch durch die vom Halbmond beschienene Wiese und können uns dann von oben her durch einige Rebzeilen unseren Zimmern nähern. Der Vorteil dieses Umwegs: Wir sehen, welche Autos auf dem kleinen Parkplatz stehen. Und kaum jemand wird annehmen, dass wir durch den Weingarten kommen.
„Ich hoffe, Laptop hat noch Akku genug. Kabel ich habe keines gefunden“, sagt Vesna, als wir vor der letzten Etappe stehen bleiben. „Falls nicht, Fran wird schon passendes Ladegerät haben.“
Ich nicke. Fran, Vesnas Sohn, kann viel mehr als ein passendes Kabel finden. Er ist ein Genie in Computerdingen, lernt gerade für den Master in „Computational Logic“.
Wir sehen die Scheinwerfer eines Autos über die Hügelkuppe leuchten. Da fährt jemand auf den Bauernhof oder auf das Haus der Tante zu. Es ist ja auch noch nicht besonders spät, gerade einmal halb zehn. Ist wohl ein Gast. Trotzdem besser, vorsichtig zu sein. Wir bleiben bei den dicht belaubten hohen Rebstöcken stehen, sie schützen uns beinahe so gut wie eine Wand. Das Auto hält tatsächlich auf dem Parkplatz der Tante. Wir schleichen etwas näher. Schwarzes großes Auto. Allrad-Mercedes. Ein Mann steigt aus. Im Eingang zum Wohnhaus der Tante wird es hell. Der Mann geht Richtung Tür, heraus
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