Untreu
ist halb elf. Du kriegst das schon hin. Wir sind ja da. Wenn du nicht schlafen kannst, kommst du zu uns ins Bett.«
»Wenn ich wieder in die Schule muss, dann hau ich ab. Dann bring ich mich um.«
»Lukas, Herrgott noch mal...«
Stunden später lag Mona in Antons Armen und roch seinen vertrauten Duft, eine Mischung aus Schweiß und seinem Aftershave. Anton atmete tief und regelmäßig. Mona schlief nicht. Wie viele Nächte sie so schon neben ihm verbracht hatte, konnte sie gar nicht zählen. Sie dachte an Lukas' kleines, hartes Gesicht, an seinen zusammengepressten Mund, der aussah, als könne er nie wieder lächeln: dann, wenn
es
ihn überkam.
Es
war der Tod aller Gefühle außer Reizbarkeit und Furcht.
Es
machte aus einem gesunden, frechen Dreizehnjährigen einen missmutigen Greis. Ich kann nicht, ich will nicht, ich schaff das nicht, lasst mich in Ruhe.
Allmählich glitt Mona in einen Traum. Sie war wieder ein kleines Mädchen und ging mit ihrer Oma in den Zoo. Sie roch die scharfen Ausdünstungen der Tiere. Die Sonne warf helle Flecken durch die dicht belaubten Kastanienbäume, und ein leichter Wind kühlte Wangen und Glieder. Mona trug ein frisch gebügeltes blaues Kleid mit weißen Blümchen. Es war unglaublich schön in diesem Zoo. Sie lief von einem Gehege zum anderen und wieder zurück zur Oma, strahlend. Mona und die Oma betrachteten die Giraffen mit ihrem majestätischen Gang und ihren schwankenden Hälsen, und anschließend durfte Mona auf einem Pony reiten, einem Emu vorsichtig über die Federn streicheln und Antilopen füttern, deren gepolsterte Lippen weich wie Seide waren. Zum Schluss gingen sie zu den Elefanten. Die standen hinter einem breiten Graben, aber ihre Rüssel reichten bis zu Mona. Unendlich behutsam klaubten sie Erdnüsse aus Monas kleiner Hand und ließen sie anschließend in ihrem riesigen Spitzmaul verschwinden.
Sind Erdnüsse nicht viel zu wenig für so große Elefanten? Das schmecken die doch gar nicht.
Hast du eine Ahnung, sagte die Oma. Elefanten haben ganz feine Geschmacksnerven. Die bekommen alles mit, jeden Krümel, den du ihnen gibst. Und wenn du nett zu ihnen bist, werden sie dich nie vergessen.
Am liebsten hätte Mona danach Stunden vor ihrem Gehege verbracht. Nicht nur wegen der Elefanten, auch wegen der Tatsache, dass der Besuch bei ihnen einen Schlusspunkt markierte. Die Zeit gemeinsam mit ihrer Oma war vorbei. Sie musste wieder nach Hause.
Es war ein so schreckliches Gefühl, dass Mona anfing zu weinen, laut und verzweifelt. Sie wollte nicht nach Hause, zu einer Mutter, die sich immer merkwürdiger benahm.
Du musst, sagte die Oma.
Nein!
Doch. Du darfst mir nicht immer so viel Ärger machen und so unfolgsam sein. Wenn du nicht brav bist, wird die Mama... sich ärgern. Komm, meine Kleine. Schau, der Zoo macht auch schon zu.
Und tatsächlich wurden die Schatten länger und die Besucher immer weniger. Die Tiere wandten sich von den Besuchern ab und ihren Fresströgen zu.
Komm, meine Kleine. Wir müssen nach Hause.
Bitterliches Weinen. Warum kann ich nicht bei dir bleiben, Oma?
Man kriegt eben nicht alles, was man sich wünscht, kleine Lady.
Das war nicht mehr die Oma. Das war die heisere, hämische Stimme ihrer Mutter.
Kapitel 10
Necrophorus humator füttert seine Junglarven mit Aassaft, und Necrophorus vespillo vergräbt seine scharfen Greifer im Leichengewebe, das für Lucilias und Calliphoras Nachkommen zu zäh ist.
Der Tod ist nun drei Tage alt. Noch trägt er menschliche Züge.
Am dritten Tag verwandelt sich das geronnene Blut in etwas, das nicht mehr rot ist, sondern grün. Der Farbstoff zerfällt im Prozess zunehmender Erstarrung und nimmt dabei seine Komplementärfarbe an, ein chemischer Prozess, der die endgültige Auflösung und Umwandlung der Materie einleitet. Bräunliche Flecken bilden sich an den tiefsten Stellen des Körpers. Haut wird nicht mehr Haut und Fleisch bald nicht mehr Fleisch sein. Die ursprüngliche Form wird zu einer amorphen Masse zerfließen, Erhebungen werden sich nivellieren und Flüssigkeiten das aufbrechen, was sich noch wehrt gegen den Zerfall: Die Erde sammelt ihre Kräfte zum Generalangriff. Sie ist ein starker, lebendiger Organismus ohne Mitleid. Sie wird sich alles, alles einverleiben. Es ist nur eine Frage der Zeit.
Natürlich habe ich immer gewusst, dass ich eines Tages dafür werde bezahlen müssen. Ich habe ziemlich hohe Schulden beim Schicksal gemacht, und nun, so denke ich in schwarzen Stunden, macht es sich
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