Valentine
selbst hatten in ihrem langen Leben genügend Revolutionen erlebt, aber für Aliénor musste das sehr aufregend sein . Im Allgemeinen glaubte man, die Elfen wären sanfte, friedliche Wesen, fröhlich und mit sich und der Welt im Einklang . Aliénor hatte auf der Suche nach ihrem Vater das Gegenteil erlebt. In Brocéliande hatte ein überaus despotischer König geherrscht. Der Aufstand gegen ihn war schon geplant worden, bevor Aliénor dorthin reiste.
Frédéric schüttelte den Kopf. »Die Revolution ist vorbei.«
»Na ja, dann die Neukonstituierung oder was auch immer. Also geh schon«, drängte Valentine und setzte sich demonstrativ an den Tisch, als ob sie es kaum erwarten könne, an den Schriften zu arbeiten. Zwar schien Frédéric nicht überzeugt, dass alles in Ordnung war , dennoch ging er nun endlich.
Erst jetzt merkte Valentine, wie heftig ihr Herz klopfte. Es war lange her, dass sie ihren Bruder angeschwindelt hatte, und das alles wegen eines Menschen, den sie nicht wiedersehen wollte. Sie war verrückt. Unruhig sprang sie auf und lief umher. Sie würde sich keine Sekunde konzentrieren können, wenn sie ihn nicht wenigstens noch einmal traf. Ein einziges Mal konnte doch nicht falsch sein. Sie musste mehr über ihn wissen, ihre Neugier befriedigen, nur ihre Neugier, und was sie angefangen hatte, zu Ende bringen.
Valentine seufzte tief. Ihre Brust fühlte sich so eng an, als wollte sie zerspringen. Was hatten diese fremdartigen Gefühle zu bedeuten, die sie nicht schlafen ließen un d sie in Unruhe versetzten?
Kapitel 8
Eine Gruppe Jugendlicher überquerte den Platz und blieb unvermittelt in seiner Nähe stehen. Sich gegenseitig s chubsend, rülpsend und grölend , machte eine Flasche unter ihnen die Runde. Zum wiederholten Mal sah Maurice auf die Uhr. Seit dem letzten Zeitc heck waren gefühlte fünf Minuten vergangen. In Wirklichkeit waren es zwanzig Sekunden, informierte ihn die Digitalanzeige. Einer der jungen Männer stürzte und blieb mit ausgestreckten Armen auf dem Rücken liegen. Die anderen konnten sich vor Lachen selbst kaum aufrecht halten.
An seine eigenen Flegeljahre, in denen es solche Szenen auch gegeben hatte, erinnerte Maurice sich jetzt mit einer völlig anderen Betrachtungsweise. Es war noch gar nicht so lange her, dass seine Freunde und er Party gemacht hatten, mit hemmungslosen Trinkgelagen , sich gegenseitig anstachelnd . In Oxford hatte sich das allmählich gebessert. Für Exzesse war kaum Zeit und Gelegenheit gewesen. Zu anspruchsvoll und zeitintensiv war das Studium. Allzu lange sollte er nicht fernbleiben. In drei Wochen standen diverse Prüfungen an, die er nicht versäumen durfte.
Aliénor und ihre Freunde mochten ähnlich betrunken gewesen sein, als sie von den Vampiren in der Krypta überfallen wurden. Woher wussten sie überhaupt, dass es dort unten einen Raum gab? Verrückt, einfach nur verrückt. Aber noch mehr interessierte ihn : W as hatte Valentine dort gesucht?
Die Jugendlichen schubsten sich gegenseitig , und es würde nicht lange dauern, bis sie sich alle im Dreck wälzten. Verzieht euch! , knurrte Maurice vor sich hin. Endlich rappelte sich der am Boden L iegende auf, kam schwankend auf die Füße , und die Gruppe zog torkelnd und saufend weiter.
Viel hatte nicht gefehlt, und Maurice wäre an diesem Abend auf der Flucht vor all den Problemen und Fragen ebenfalls im Alkohol versumpft. Als ob es ihm helfen würde, sich zu betrinken. Er hielt sich d ie Hand vor den Mund , hauchte fest hinein und schnupperte. Na ja, frischer Atem roch anders. Er kramte in seinen Jackentaschen in der Hoffnung, dort eine Dose mit Pfefferminzdrops zu finden , und hatte Glück.
Maurice zwang sich , langsam bis hundert zu zählen. Sein nervöses Herzklopfen beruhigte sich dadurch keineswegs, aber es hielt ihn davon ab, ständig auf die Uhr zu schauen. Er war mit nur zehn Minuten Verspätung hier angekommen. Wenn man die sprichwörtlich akademische Viertelstunde bemühte, war das fast pünktlich. Vielleicht nahm es Valentine damit aber genauer und war schon wieder gegangen .
»Hast mal ‘n Euro für mi?« Der Penner sah Maurice herausfordernd an. Er zog einen Einkaufstroll ey hinter sich her, aus dem Plastiktüten quollen.
Maurice zögerte.
»Brauchst eh bald nimma. D’Welt is a Grab.«
Maurice verstand kein Wort. Er wollte nur, dass der Mann möglichst schnell verschwand, bevor Valentine – hoffentlich – käme. Um ihn loszuwerden, zückte er seinen Geldbeutel und reichte
Weitere Kostenlose Bücher