Verflucht sei Dostojewski
Körper der nana Alia taucht auf, kommt am Ende des Flurs die Treppe herunter. Er sagt guten Tag. Sie fragt ihn, was er will. Der Rauch ihrer Zigarette im Sonnenlicht verhüllt ihr Gesicht. Rassul geht durch den Flur und streckt ihr die Uhr entgegen, die er ihr einmal versprochen hat. Sie sagt, sie habe kein Geld mehr, um sie als Pfand zu nehmen. Er fleht sie an, er lasse sie ihr nur ein, zwei Tage da, es sei eine Uhr mit wertvollen Steinen. Er habe sie in Leningrad gekauft. Er wolle nur zweitausend Afghani dafür haben. Nana Alia weicht misstrauisch zurück. Sie versteht nicht, warum Rassul bei dieser Hitze einen patu trägt. Sie fragt ihn danach. Er sagt, er sei krank, er habe Fieber. Sie nimmt die Uhr und betrachtet sie. Die Zeiger stehen auf neun Minuten nach sechs. Die Uhr geht nicht richtig.
Normalerweise funktioniert sie gut, die Batterie ist nur leer. Hätte Rassul Geld gehabt, hätte er sie ersetzt.
So ein Unsinn! Es ist eine alte mechanische Uhr. Sie funktioniert gar nicht mit Batterien! Sie will sie ihm zurückgeben. Rassul nimmt sie nicht. Er fleht noch einmal, nur zweitausend Afghani. Diese Uhr ist mit zwölf Edelsteinen versetzt. Sie braucht bloß zu schauen, es steht hinten drauf.
Nein, sie will nicht. Rassul lässt nicht locker. Es ist eine russische Uhr, ein Markenprodukt. Zum Teufel, soll sie ihm geben, was sie will! Doch die Alte wird immer misstrauischer beim Anblick des zitternden Rassul. Er nimmt ihre Hand und legt sie auf seine Stirn, damit sie sich überzeugen kann, wie fiebrig und erschöpft er ist. Seit zwei Tagen hat er nichts mehr gegessen. Sie zieht ihre Hand zurück, zögert, dann akzeptiert sie die Uhr, aber unter einer Bedingung: dass seine Verlobte wieder für sie arbeitet; andernfalls wird sie morgen ihr Geld zurückverlangen und außerdem alle hinauswerfen, seine Verlobte mitsamt ihrer Familie. Rassul willigt ein. Sobald er von hier fort ist, wird er Suphia aufsuchen und sie bitten, ihre Arbeit wiederaufzunehmen.
Die Alte will weggehen, aber sie dreht sich noch einmal zu Rassul um, um etwas klarzustellen: Ab jetzt ist sie es, und sie allein, die Suphia den Zeitpunkt angibt, wann es ihr erlaubt ist zu gehen. Er nickt. Dann befiehlt sie ihm, im Flur zu warten; sie selbst steigt die Treppe hoch. Als sie oben angekommen ist, setzt sich Rassul, beklommen und verstört, auf Zehenspitzen in Bewegung. Das Beil, das er unter seinem patu versteckt hält, fühlt sich immer schwerer an; seine Arme immer schlaffer; seine Beine immer steifer. Mühsam steigt er die Treppenstufen hoch, erreicht den Flur des oberen Stockwerks, wo nana Alia vor einer kleinen Tür steht, die sie aufmacht. Nach kurzem Zögern schlüpft sie in den Raum und schließt sich ein. Rassul nähert sich dem Zimmer mit schweren Schritten. Er legt sein Ohr an die Tür und hört, wie sich die Flügel eines Schrankes öffnen und wieder schließen. Er holt tief Luft. Dann auf einmal tritt er die Tür ein und stürzt sich auf nana Alia, die am Fenster ein Bündel Geldnoten zählt. Als Rassul das Beil hebt, um es der alten Frau auf den Kopf zu schlagen, schießt ihm plötzlich die Geschichte von Verbrechen und Strafe in den Sinn. Und schmettert ihn nieder. Seine Arme zittern, seine Beine wanken. Das Beil rutscht ihm aus den Händen. Es spaltet den Schädel der Frau, dringt tief in ihn ein. Ohne einen Schrei sinkt die Alte auf den rot-schwarzen Teppich. Ihr Schleier mit dem Apfelblütenmuster schwebt in der Luft, bevor er sich auf ihren schlaffen, fülligen Körper legt. Sie zuckt. Ein letzter Atemzug, zwei vielleicht. Ihre aufgerissenen Augen starren auf Rassul, der mit angehaltenem Atem, fahler als eine Leiche, mitten im Raum steht. Er zittert, sein patu gleitet ihm von den eckigen Schultern. Sein erschrockener Blick versinkt im Strom des Blutes, das aus dem Schädel der Alten rinnt, sich mit dem Rot des Teppichs vermischt, die schwarzen Linien bedeckt und sich dann langsam der fleischigen Hand der Frau nähert, die ein Bündel Geldscheine umklammert. Das Geld wird voller Blut sein.
Los, Rassul, rühr dich!
»Rassul?«
Er kommt wieder zu sich, dreht sich panisch zu der Stimme um. Suphia und Nazigol betrachten ihn verwundert von der Türschwelle aus. »Was ist los, Rassul?«, fragt Suphia und geht auf ihn zu. Er irrt ziellos im Raum umher, wirft ängstliche Blicke in jede Ecke und jeden Winkel. Keine Spur von seiner Tat.
»Warst du schon mal in diesem Zimmer?«, fragt Nazigol neugierig. »Meine Mutter schließt es immer ab.
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