Verfuehrt zur Liebe
gehoben - als hätte sie sich bis zum Ende heftig gegen ihren Mörder gewehrt.
Zum ersten Mal verspürte er echtes Mitleid mit ihr; sie war vielleicht eine gesellschaftliche Katastrophe, aber das verlieh niemandem das Recht, ihr Leben zu beenden. Daneben verspürte er auch Wut, ziemlich dicht unter der Oberfläche sogar, aber das war komplizierter und galt nicht allein dem, was Kitty angetan worden war. Er zügelte sie, zwang sich, sich möglichst genau alles einzuprägen, was er sehen konnte.
Der Mörder hatte hinter Kitty gestanden und sie - er drehte sich um, um es zu überprüfen - mit einer Vorhangschnur von der nächsten Terrassentür erdrosselt. Kitty war die kleinste der anwesenden Frauen, nur etwas größer als einen Meter fünfzig; es war gewiss nicht wirklich schwer gewesen. Er betrachtete die Umgebung um die Leiche, ihre Hände, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken, außer dass ihr Kleid nicht das war, das sie zum Lunch getragen hatte. Das war ein Morgenkleid gewesen, vergleichsweise schlicht; das, was sie nun anhatte, war hübscher, ein Teekleid, das so geschnitten war, dass es ihre üppigen Rundungen vorteilhaft betonte, aber immer noch vollkommen angemessen für eine verheiratete Frau.
Er besah sich den Schreibtisch; aber da war nichts Außergewöhnliches, kein halb beendeter Brief, keine Tintenkleckse auf dem Papier, die Federkiele lagen alle fein säuberlich auf ihrem Tablett, das Tintenfass war geschlossen.
Nicht dass er geglaubt hätte, Kitty wäre in die Bibliothek gekommen, um Briefe zu schreiben.
Er kehrte zu Portia zurück, schüttelte den Kopf als Antwort auf ihren fragenden Blick. »Keine Hinweise.«
Er nahm das Glas, das sie ihm hinhielt. Es war immer noch halbvoll. Er leerte es in einem Zug, dankbar für die Wärme, die der Brandy durch seinen Körper sandte. Er war vorher schon beunruhigt gewesen wegen seines Gespräches mit Portia, und nun kam das hier noch dazu.
Er holte Luft und schaute auf sie herab.
Sie blickte zu ihm hoch, direkt in die Augen.
Ein Augenblick verstrich, dann hob sie eine Hand, streckte sie aus zu ihm.
Er schloss seine Finger darum, spürte ihren Druck.
Sie blickte zur Tür; sie wurde aufgestoßen - Henry und Blenkinsop stürmten in den Raum. Ambrose und ein Lakai folgten ihnen auf den Fersen.
Die folgenden Stunden gehörten zu den scheußlichsten, die Simon je erlebt hatte. »Schock« war ein zu mildes Wort, um zu beschreiben, welche Wirkung Kittys Tod auf sie hatte. Alle waren zu bestürzt, um es zu begreifen. Trotz allem, was während der vergangenen Tage vorgefallen war, hätte sich niemand träumen lassen, dass es so enden würde.
»Ich habe manchmal mit dem Gedanken gespielt, sie zu erwürgen«, sagte James. »Aber ich hätte nie geglaubt, dass jemand es täte.«
Doch das hatte jemand.
Die meisten der anwesenden Damen waren zutiefst erschüttert. Sogar Lady O.; sie vergaß vollkommen, sich schwer auf ihren Stock zu stützen und damit auf den Boden zu klopfen. Drusilla war am gefasstesten, doch auch sie begann zu zittern, wurde blass und sank in einen Stuhl, als sie es erfuhr. Im Tod wurde Kitty wesentlich mehr Mitgefühl zuteil als im Leben.
Unter den Herren herrschte, nachdem der erste Schreck abgeklungen war, vor allem Verwirrung. Das und die wachsende Sorge, wie es weitergehen, was sich daraus entwickeln würde.
Simons Aufmerksamkeit, seine Sorge galt allein Portia. Stunden später hatte sie sich noch immer nicht wirklich erholt, zitterte von Zeit zu Zeit noch. Ihre Hände fühlten sich klamm an, und ihre Augen waren riesig in ihrem bleichen Gesicht. Er wollte sie auf die Arme nehmen und einfach wegbringen, weit weg von hier, aber das war leider nicht möglich.
Lord Willoughby, der Richter des Bezirks, war benachrichtigt worden; er traf ein, und nachdem er die angemessenen Worte gefunden und sich den Leichnam angesehen hatte, der immer noch unverändert in der Bibliothek hinter dem Schreibtisch lag, zog er sich in Lord Glossups Arbeitszimmer zurück. Zuerst sprach er der Reihe nach mit den Herren, dann rief er Portia zu sich, damit sie ihm alles erzählte.
Simon begleitete sie, als wäre das sein gutes Recht. Sie hatte ihn nicht darum gebeten, und er hatte sie nicht gefragt, aber seit sie seine Hand in der Bibliothek ergriffen hatte, hatte sie sie nur losgelassen, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ. In einem Stuhl sitzend, der vor dem hastig im Kamin entfachten Feuer stand, er auf der Lehne neben ihr, berichtete sie stockend alle
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