Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
fiel mein Blick nach unten, wo die Lakritzteile verstreut lagen. Die leere Plastiktüte hatte sich unter dem Vorderrad einer Großraumlimousine zwei Parklücken weiter verfangen. Ich stieg ein und beugte mich auf die andere Seite, um die Beifahrertür zu entriegeln. Dabei sah ich kurz zu dem Mädchen hinüber, das immer noch in der Tür der Zoohandlung stand. Sie hob die Hand zu einem Winken und ich nickte ihr zu. Dabei versuchte ich zu ignorieren, dass sie immer noch ziemlich besorgt aussah.
Mein Vater ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder – vorsichtiger, als er das noch vor einer Stunde getan hatte. Die Kuchenschachtel und meinen Beutel legte ich auf dem Rücksitz ab und stellte dann meinen Sitz höher. Obwohl ich natürlich wusste, wie groß mein Vater war, fiel mir der Unterschied zwischen uns immer dann so richtig auf, wenn ich ein Auto fahren wollte, in dem er zuvor am Steuer gesessen hatte und ich mit den Füßen nicht mal an die Pedale kam. Ich ließ den Motor an und wir fuhren den größten Teil der Strecke schweigend nach Hause. Er hatte den Kopf zum Fenster gewandt, und ich wusste nicht, ob er noch Schmerzen hatte. Aber ich fand einfach nicht die richtigen Worte, um ihn danach zu fragen. Seit dem Gespräch an meinem Geburtstag im Esszimmer hatten wir seine Krankheit und das, was sie für ihn und uns bedeutete, kaum erwähnt. Aber ich hatte es auch gar nicht erst versucht. Er wollte ganz offensichtlich so leben, als ob alles ganz normal war – so ungefähr hatte er sich jedenfalls ausgedrückt –, aber in Momenten wie diesem schien all das Ungesagte nur zu verhindern, dass ich überhaupt Worte fand.
»Hast du gesehen, wie die Zoohandlung heißt?«, fragte ich ihn, nachdem wir so lange schweigend nebeneinander gesessen hatten, dass ich es einfach nicht mehr aushielt. Ich schaute kurz zu ihm und sah, wie sich die Mundwinkel meines Vaters kräuselten.
»Hab ich«, nickte er und sah mich an. »Na, wenn der Laden mal nicht für die Katz ist.« Ich stöhnte auf, weil ich wusste, dass er das erwartete, aber gleichzeitig überkam mich auch eine Woge der Erleichterung. Ich hatte das Gefühl, dass die Luft im Auto plötzlich weniger schwer war und mir das Atmen wieder leichter fiel.
»Na ja«, bemerkte ich, als ich in unsere Straße einbog, »er kann sich ja noch mausern.« Mein Vater lachte auf und grinste mich an.
»Hübsch«, sagte er, was sein allerhöchstes Kompliment war, wenn es um Kalauer ging.
Ich parkte das Auto neben dem meiner Mutter und stellte den Motor ab, aber keiner von uns beiden machte irgendwelche Anstalten, auszusteigen.
»Das ist wirklich klasse mit deinem Job«, sagte mein Vater und er klang müde. »Tut mir leid, wenn das ein bisschen untergegangen ist in …« Er machte eine kurze Pause und räusperte sich. »Dem Ganzen.«
Ich nickte und fuhr mit dem Finger über eine Stelle am Lenkrad, wo das Leder eingerissen und wahrscheinlich leicht abzupulen war, wenn man nur lange genug daran herumspielte. »Also«, fing ich zögernd an. »Wollen wir … ich meine … darüber reden?«
Mein Vater nickte, obwohl er das Gesicht ein bisschen verzog. »Klar«, sagte er. »Wenn du das willst.«
Da packte mich die Wut, so plötzlich und unerwartet, als ob jemand einen Böller gezündet hätte. »Also, ich bin da auch nicht besonders scharf drauf«, ich hörte die Schärfe in meinem Ton und es tat mir leid, noch während die Worte aus mir hervorsprudelten. »Aber nun sind wir schon mal alle hier oben, und nie reden wir mal, oder …« Es war, als ob mir die Worte und die Wut gleichzeitig ausgingen. Übrig blieb nur ein flaues Gefühl in der Magengegend, weil ich natürlich wusste, dass meinen Vater anzuschreien nun wirklich komplett daneben war. Ich holte tief Luft, weil ich ihn auf der Stelle um Entschuldigung bitten wollte, doch er nickte nur.
»Wir werden reden«, sagte er. Er schaute weg, hinüber zu unserer Veranda, als ob er dort den Moment in der Zukunft sehen konnte, wenn das passieren würde. »Wir werden … alles sagen, was wir zu sagen haben.« Plötzlich musste ich heftig schlucken und ich spürte, wie mir die Tränen kamen. »Aber im Moment, so lange es noch geht, möchte ich einfach nur einen ganz normalen Sommer mit euch haben. Kannst du das akzeptieren?« Ich nickte. »Gut«, sagte er. »Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.«
Ich musste lächeln – diese juristische Wendung benutzte er immer, wenn er ein Thema als erledigt betrachtete. Doch ich hatte noch eine Frage, die mir
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