Verliebt, verlobt, verflucht
Eltern, dachte sie noch einmal daran, den Brief zu lesen. Die Dunkelheit hatte ihr Zimmer vollends in der Hand, also blies sie die Kerzen im Leuchter aus und zündete sich ihre fuchsiafarbene Lieblingslaterne an. Sie flüsterte die Worte des Briefes halblaut vor sich hin und sah nicht, wie seltsam der Kerzendocht in der Laterne flackerte, bei jeder Silbe entzückt ausschlug, wobei ein zartes Knistern aus der Laterne drang.
Natalie war zu vertieft in die Worte.
Indessen öffnete sich ganz langsam und sachte das Laternentürchen und heraus spazierte ein handgroßes Männchen. Der Körper bestand aus feuriger, knisternder Glut. Es hatte einen schuppigen Drachenschwanz und Klauen wie die einer Echse. Die kohleähnlichen Augen blickten Natalie durchdringend an, die noch immer in Gedanken versunken war und das Feuermännchen noch nicht bemerkt hatte. Es verneigte sich höflich: »Guten Abend, junges Fräulein. Darf ich mich Euch vorstellen? Ich bin das Feuermännchen.«
Natalie erschrak und stieß einen spitzen Schrei aus.
Das Männchen seufzte. »Ach, wenn die Leute doch nur bei meinem Anblick weniger erschrecken würden.« Freimütig spazierte es über Natalies Bettdecke und sengte dabei mit jedem Tritt den Stoff an. »Ich wollte mich erkundigen, ob Euch der Brief gefallen hat?«
Natalie glaubte zu träumen. Sie musste träumen!
Sie kniff die Augen zusammen und wurde wieder von dem Wesen, das dem Feuer entsprungen war, geblendet. Sie kreischte abermals auf. Was geschah bloß um sie? Sie starrte das höflich grinsende Feuermännchen an, rieb sich die Augen, fand es immer noch vor und bekam schließlich einen Wutanfall: »Was fällt dir ein, einfach ungefragt in mein Zimmer zu spazieren?« Sie warf wütend ein Kissen nach dem Wesen.
»Aber mein junges Fräulein, ich wollte Euch doch nicht vor den Kopf stoßen«, verteidigte sich das Feuermännchen, das vor dem Kissen in die Laterne geflüchtet war und nun wieder zaghaft hervortrat. »Ihr müsst wissen, ich komme im Auftrag meines Meisters, des Briefverfassers.«
»Des Briefverfassers? Meinst du Artus R. Ruvin?«, fragte ihn Natalie überrascht.
Das Feuermännchen nickte eifrig. »Ganz genau.«
Natalie spürte, wie es in ihren Fingern vor Aufregung kribbelte. Sie versuchte ihre Nervosität zu verbergen. Endlich würde sie der Lösung des Rätsels näherkommen.
»Schön, ich hätte da nämlich ein paar Fragen. Diesen Brief haben die Flammen meines Hauskamins ausgespuckt. Kannst du mir erklären, wie dieser Brief zu mir gelangt ist, obwohl alle Kamine in Peretrua versiegelt sind? Und warum hat ihn mir dein Meister nicht persönlich gebracht?«
Das Feuermännchen blinzelte verstört. »Soll das heißen, Ihr könnt Euch nicht mehr an meinen Meister erinnern?«
»Nein, kann ich nicht. Wie auch, es gab noch nie einen Artus in meinem Leben.«
»Seid Euch da nicht so sicher«, murmelte das Feuermännchen und orakelte: »Das wird meinem Meister gar nicht gefallen.«
»Ich habe mir lange darüber den Kopf zerbrochen und ich bin mir sicher, dass ich keinen Artus kenne. Aber wie kommst du darauf?«
»Das kann ich Euch nicht sagen«, seufzte das Feuermännchen und lenkte auf ein neues Thema: »Ihr müsst wissen, mein Herr ist von ungeduldiger Natur und brennt darauf zu erfahren, ob die Zeilen Euch schmeicheln und wann er einen Antwortbrief erwarten kann? Ihr müsst wissen, ich bin ein perfekter Briefschreiber, auch wenn man mir das vielleicht nicht zutraut.« Und mit einem Fingerschnippen zauberte er Feder, Papier und Tinte aus festem Ruß herbei und wartete gespannt, was ihm Natalie wohl diktieren würde.
Natalie überlegte. Würde sie dem seltsamen Wesen einen Brief diktieren, würde sie diesen Artus womöglich nicht zu Gesicht bekommen. »Bedaure, das werde ich nicht tun«, erwiderte sie kühl. »Ich schreibe einem Fremden keinen Brief! Ich möchte, dass sich dieser Artus mir zuerst vorstellt und mir erklärt, warum er mich kennt und ich ihn nicht, verstanden?«
»Wie Ihr wünscht«, sagte das Feuermännchen verstimmt und ließ die Schreibutensilien ebenso schnell verschwinden, wie es sie herbeigezaubert hatte. »Wann Ihr es Euch anders überlegt habt, braucht Ihr nur vor einem prasselnden Kamin- oder Kerzenfeuer nach mir, dem Feuermännchen, zu rufen. Gute Nacht!« Es spazierte verdrießlich in die Laterne zurück.
Natalie starrte auf ihre Laterne und verharrte einen kurzen Augenblick. Hatte sie wieder einmal geträumt? Sie beschloss bis morgen früh zu warten und
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