Verlockend wie ein Dämon
und dann seid ihr völlig überrascht, wenn die Dunkelheit euch eure Seele raubt.«
Der füllige Zauberer runzelte die Stirn. »Nicht alle Roma-Magier studieren die dunklen Künste.«
»Aber viele.« Lena sah ihn mit festem Blick an. »Du auch.«
»Da irrst du dich. Ich habe weder das
Buch Gnills
noch das
Buch T’Farc
gelesen.« Als sie fragend die Augenbrauen hob, erklärte er: »Das sind die beiden schwarzen Zauberbücher der Roma.«
Lena legte eine Hand an den goldenen Anhänger um ihren Hals. Die Erinnerung an seine wilde Reaktion auf Stefans Anwesenheit war ihr noch sehr gegenwärtig. »Soll mich das etwa beruhigen? Das sind nicht die einzigen Werke über die dunklen Künste, die es gibt. Fast jede alte Kultur besitzt eines oder zwei. Allein die Ägypter haben mehrere. Das
Totenbuch
ist nur das berühmteste.«
»Warum sollte ich auch nur eines davon lesen?« Stefan fixierte sie durch die tiefschwarzen Locken, die ihm über die Stirn fielen. »Du willst doch nicht etwa behaupten, dass ich nach dunkler Magie rieche, oder?«
Vielleicht war »riechen« nicht das beste Wort dafür, aber es beschrieb für Lena am treffendsten, wie ihr Amulett dunkle Geister erkannte. Und es erkannte sie wirklich. Bis vor ein paar Stunden hatte es an ihrer Haut in einer Art moralischen Entrüstung geklopft, wann immer sie dem Magier näher als fünfzehn Meter gekommen war. So reagierte es auch, wenn ein Dämon oder eine dunkle Reliquie auftauchte.
»Ich weiß nicht, wie du zu deinen Fähigkeiten gekommen bist«, sagte Lena. »Aber ich bin überzeugt, dass du sie besitzt. Nenn es gute Nase oder sonst was – das ist mir gleich. Aber ich vertraue meinen Sinnen.«
Den Blick auf sein Glas gerichtet, schwieg Stefan für eine Weile.
»Nicht alles, was wir lernen, ist eine Lektion, um die wir gebeten haben«, erwiderte er schließlich. »Manchmal wird uns Wissen von den Umständen aufgedrängt.«
Lena erstarrte. Sprach er von seinem Wissen … oder ihrem?
Bis zu jenem Tag, an dem sie in einer engen Gasse von Kairo gestorben war, hatte sie ihr Wissen nur durch Erfahrung angehäuft. Nichts war ihr von einem Lehrer beigebracht worden. Die kurzen, leuchtenden Augenblicke einmal nicht mitgerechnet, in denen ihr Vater, aufgehend in seiner Liebe zu einer längst vergangenen Zeit, sie mit Vorträgen über die Legenden des alten Ägypten in den Schlaf gewiegt hatte. Hätte ihre Mutter noch gelebt, so hätte sie sie in den Künsten einer Frau unterwiesen – wie eine Frau tanzte, wie sie ihre Hände mit Henna bemalte, wie sie Brot buk und Kushari zubereitete. Stattdessen hatte Lena ihre Bildung auf den Straßen gefunden und dank der Ermahnungen ihres permanent hungrigen Bauchs an ihrer Fingerfertigkeit als Diebin gefeilt.
Sie wusste besser als die meisten, wie die Umstände den Geist formen konnten. Aber sie weigerte sich, auch nur das winzigste Verständnis für den Magier aufzubringen.
»Jeden Tag stehen wir vor der Wahl. Die Entscheidungen, die wir treffen, gehören uns.«
Ein flüchtiges Lächeln trat auf Stefans Lippen. »Da gebe ich dir recht.«
Lena runzelte die Stirn. Sie wollte nicht, dass er ihr recht gab. Es schmeckte ihr nicht im Mindesten, gleicher Meinung über was auch immer mit dem Magier zu sein. Ihre und seine Lage waren ganz und gar verschieden. »Du und nur du hast dich dafür entschieden, den Weg der dunklen Künste einzuschlagen. Du kannst nicht die Umstände dafür verantwortlich machen.«
»Ich habe meine Entscheidungen getroffen«, bestätigte er. »Aber das hast du auch getan.«
Das vermochte sie wohl kaum zu bestreiten. »Eine Diebin und ein williger Sklave des Bösen zu werden, sind sehr unterschiedliche Entscheidungen, Magier.«
»Tatsächlich?« Stefan stellte sein Glas auf den Tisch. Die Eiswürfel waren schon lange geschmolzen, aber bei der Hitze hörte das Glas nicht auf zu schwitzen. »Wenn das Diebesgut dunkle Reliquien sind, die die Macht haben, die Welt zu zerstören, dann verwischen sich die Grenzen ein bisschen, oder?«
Gerechter Zorn kochte in ihr hoch, und sie sprang auf. »Ich tue das, was ich tue, um die Menschen zu schützen, und nicht, um ihnen zu schaden.«
»Willst du mir etwa erzählen, dass dein Diebinnendasein noch nie jemandem Schaden zugefügt hat?«
Der Schlag traf sie tief. Sie schloss die Augen. Es war verlockend, auf seine Herausforderung mit der Beteuerung zu antworten, dass sie noch nie jemandem etwas gestohlen habe, das dieser nicht mit ruchlosen Mitteln erlangt
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