Verloren: House of Night 10 (German Edition)
Diejenigen, die ich als Teamführer benannt habe, sollten regelmäßig zu mir kommen, mich über den Stand der Dinge informieren und natürlich auch um Unterstützung bitten, wenn ihr sie braucht. Heute werde ich Zoey zu Street Cats begleiten, aber danach werde ich wieder wie üblich hier auf dem Campus zu finden sein.
Wir müssen nicht hier sitzen, bis die Stunde zu Ende ist. Es herrschen besondere Umstände, und ihr seid ohnehin besondere Schüler, denen ich eine größere Selbständigkeit des Denkens und Handelns unterstelle. Ich weiß, dass ihr das Beste für unsere Schule im Sinn habt. Also fangt mit euren Aufgaben an. Ich wünsche euch ein frohes Treffen, frohes Scheiden und frohes Wiedersehen.«
Und – schwupp – waren wir Dallas, Erin und ihren Gaffer- und Spitzelclub los. Und sie hielten Thanatos für nichts anderes als eine gutgläubige Hohepriesterin, die ihnen gerade eine Riesenverantwortung für den Tag der offenen Tür übertragen hatte. Und sie würden, da war ich mir sicher, diese Zusammenarbeit mit Neferet auf übelste Weise missbrauchen.
Während wir unsererseits Grandma retten und die ahnungslose Neferet gründlich aufmischen würden. Dann würden wir immer noch genug Zeit haben, den Schaden zu beheben, den Dallas, Erin und ihre Gang mit unserem Tag der offenen Tür angerichtet hätten.
Das jedenfalls war der Plan.
Zweiundzwanzig
Aurox
Während Aurox im Turm des Bahnhofs wartete, war er endlich in der Lage, sich zu entspannen. Seltsam – seit ihm die Verantwortung übertragen worden war, Grandma Redbird zu retten, hatten sich das Chaos und der Tumult in seinem Kopf gelegt. Er war auf dem richtigen Weg. Er wusste es. Und als die Elemente in ihn eingeströmt waren und ihn gestärkt hatten, bis sein Wille über den der Bestie triumphierte, war ein unwahrscheinliches Hochgefühl in ihm aufgekommen.
»Ich bin mehr als eine aus Finsternis geformte Hülle.« Die Worte hallten von den steinernen Wänden des Turms wider. Aurox lächelte. Er hätte es am liebsten von der Dachterrasse des Mayo hinuntergebrüllt. »Das werde ich«, versprach er sich selbst. »Wenn Grandma Redbird frei und in Sicherheit ist, werde ich es in alle Winde rufen, dass ich mich von der Finsternis abgewandt und für das Licht entschieden habe.« Bis dahin war es ein gutes Gefühl, es laut auszusprechen, auch wenn er der Einzige war, der es hören konnte.
Außer, die Göttin hörte zu …
Aurox sah zum Nachthimmel auf. Er war klar, und obwohl der Bahnhof mitten in der Stadt lag, waren Millionen von Sternen und die schmale, mild leuchtende Sichel des Mondes zu sehen.
»Die Mondsichel. Dein Symbol«, sagte Aurox zu ihm. »Nyx, falls du mich hörst, dann will ich dir danken. Du musst etwas damit zu tun haben, dass ich die Wahl habe, mehr zu sein als das, woraus ich erschaffen wurde. Die Finsternis hätte mir diese Wahl nicht gegeben – daher kannst nur du es sein. Also danke. Und es wäre schön, wenn du Grandma Redbird Kraft schenken könntest. Hilf ihr durchzuhalten, bis ich sie retten kann.« Zuversichtlich und glücklich lehnte sich Aurox gegen das Rund der Mauer, schloss die Augen und fiel mit einem Lächeln auf den Lippen in einen tiefen Schlaf.
Er war es nicht gewohnt, zu träumen. Gewöhnlich hatte er keine Erinnerung an die Stunden des Schlafs. Daher war es von Anfang an erstaunlich, dass er vom Angeln träumte.
Aurox hatte noch nie geangelt, dennoch kam ihm der Steg, auf dem er saß, vertraut vor. Ruhig lag der topasblaue See vor ihm, umkränzt von einem herrlichen Hain uralter Bäume. Er hatte noch nie eine Angel in der Hand gehalten, dennoch fühlte es sich richtig an. Aurox holte die Leine ein und warf sie wieder aus. Mit einem satten Plumpsen traf der Schwimmer weit draußen aufs Wasser auf. Er seufzte wohlig und blickte müßig auf das spiegelglatte Wasser hinab – und ihn durchzuckte heilloser Schrecken.
Aus dem Wasser blickte nicht sein eigenes Gesicht zurück – sondern das eines anderen Jungen. Er hatte wuscheliges sandfarbenes Haar und blaue Augen, in denen die gleiche Überraschung stand wie in Aurox’ eigenen.
Aurox hob die Hand – und das Spiegelbild berührte das andere Gesicht.
»Das bin nicht ich«, sagte er zu dem falschen Spiegelbild – und wieder durchzuckte ihn ein Schock. Es war seine Stimme, aber der Fremde bewegte die Lippen! »Das ist ein Traum. Nur etwas, was sich mein schlafender Geist vorstellt.« Er musste nur aufwachen. Aber er konnte nicht aufhören, nach unten zu
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