Verloren in deiner Sehnsucht: Roman (German Edition)
Alkohol gemacht. Das Trinken war für ihn eine Angewohnheit der Blaublütigen, jener Männer, die nicht am frühen Morgen aufstehen mussten, um für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten – und die, wie er unvermittelt begriff, auch ihn jetzt einschlossen.
Bei diesem Gedanken sprang Gareth von seinem Stuhl auf und ging ruhelos im Zimmer auf und ab. Sein Großvater hatte recht gehabt: Er war nicht für diese Art von Leben gemacht. Wie also war es dazu gekommen? Für eine Weile verlor er sich in dem Durcheinander seiner Gedanken und halb verzerrten Erinnerungen; später hätte er nicht sagen können, was es gewesen war, aber schließlich lenkte ihn etwas von diesen Gedanken ab. Er zog die schweren Vorhänge auf und schaute über den Vorplatz, der unterhalb des Fensters lag.
Selsdon Court war als normannische Festung erbaut und während der Regierungszeit Williams II. mit einer zinnenbewehrten Mauer umgeben worden. Im Laufe der Zeit hatte sich die Burg zu einem eleganten Landsitz gemausert, der sich viele seiner originalen Teile bewahrt hatte. Zu diesen zählten auch die südliche und die östliche Bastei, die durch eine hohe Festungsmauer, dem ältesten Teil des Hauses, miteinander verbunden waren. Gareth konnte die Mauer über dem inneren Burghof aufragen sehen. Ihre rauen Steinwände leuchteten gelbbraun im flackernden Licht, das die Laternen des Torhauses spendeten. Von seinem Aussichtspunkt erkannte Gareth auch den zinnenbesetzten Wehrgang, wohingegen der innere Wall im Dunkeln lag.
Gareth richtete den Blick zum Himmel. Auch wenn es weniger heftig als zuvor regnete, goss es noch immer in Strömen. Ein weiterer Blitz erhellte den Himmel und das Haus. Gareth’ Blick glitt wieder zur Festungsmauer. Etwas auf dem Wehrgang hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Eine Bewegung? Licht? Beides, dachte er. Ein weiterer Blitz, diesmal jedoch weiter entfernt.
In dem kurz aufflackernden Licht sah er sie ganz deutlich. Eine Frau in Weiß. Wie ein Geist schien sie zu schweben, ihre hellen Arme hatte sie zum Himmel emporgehoben. Großer Gott, betete sie darum zu sterben? Wieder blitzte es zwischen den dunklen Wolken auf, und der Widerschein hüllte die Gestalt in ein fahles, überirdisches Licht. Sie schien den heranziehenden Sturm nicht zu bemerken. Gareth war in seine Schuhe geschlüpft, noch bevor ihm bewusst war, was er tat.
Später war ihm natürlich klar geworden, dass er nach einem Diener hätte rufen sollten. Es hätte ihn vor einem Paar durchweichter Slipper und einer Menge Sorgen bewahrt. Doch unter dem Druck des Moments sprintete er die sich windenden Korridore entlang, die Treppen hinunter und hinauf, die von einem Flügel des Hauses in den anderen führten. Während er rannte, betete er darum, sich wieder daran zu erinnern, welcher Weg zur Festungsmauer führte. Er würde sich doch daran erinnern, oder? Cyril und er hatten als Kinder häufig in den Türmen gespielt, hatten sich die Wendeltreppen hinauf- und hinuntergejagt.
Plötzlich sah er es. Einen gewölbten Durchgang und eine Tür aus mit Eisenbändern beschlagenem Holz, die schief in die Wand eingelassen war. Er stieß die Tür auf und betrat den kreisrunden Raum des Turmes. Die Treppe befand sich ihm gegenüber. Er hetzte die Stiegen hinauf und stand vor der nächsten Tür, schmal und aus Holzbrettern, durch die man den Wehrgang erreichte. Doch die verdammte Tür war verschlossen.
Gareth versuchte es mit einem gewaltigen Schulterstoß, und tatsächlich gab die Tür mit knarrenden Angeln nach. Die Frau stand noch im Wehrgang. Ein Stück weit entfernt vor ihm hatte sie ihm den Rücken zugewandt. Wieder wurde der Horizont von einem Blitz erhellt und tauchte den Ostturm in einen grellen Schein. Doch Gareth musste der Frau nicht ins Gesicht sehen. Er wusste, wer sie war; wenn er ehrlich zu sich war, hatte er es bereits gewusst, als er sie aus dem Fenster erblickt hatte.
»Euer Gnaden!« Seine Stimme übertönte kaum das Rauschen des Regens. »Antonia! Halt! «
Sie hörte ihn nicht. Vorsichtig näherte er sich ihr, kümmerte sich nicht um die Pfützen. Eine Spannung schien von ihrem Körper auszugehen. Das helle Haar hing ihr bis zu den Hüften und war vom Regen bereits durchnässt. Sie sah erschreckend dünn und zerbrechlich aus.
»Antonia?«, sagte er leise.
Als er sie an der Schulter berührte, wandte sie sich ohne sichtbares Erschrecken um und blickte – sie blickte ihn nicht an , sondern durch ihn hindurch . Die Situation war beunruhigend,
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