Verlorene Eier
vergehen wie im Flug. Wir hören ein paar späte Songs von Johnny Cash, während die Sonne am blauen Bilderbuchhimmel höher steigt. Ich merke Amber an, dass auch ihre Neugier erwacht ist.
»Was soll ich anziehen, was meinen Sie?«
»Bleiben Sie einfach so, wie Sie sind, meine Liebe.«
»Ich soll ernsthaft in dieser alten Sch… in dieser alten abgetragenen Jacke mit einer Kapazität auf dem Gebiet der Mikrotubuli ausgehen?«
»Tony ist selbst ein kleiner, nun ja, Bohemien, wenn Sie so wollen. Er wird hinter die Fassade sehen und Ihren Charakter erkennen.«
Die Vorstellung jagt ihr einen Schauder über den Rücken. Und mir insgeheim ebenso.
Der Einzige in der Rostlaube, dem diese Idee nicht in den Kram passt, ist der kleine Satansbraten auf dem Rücksitz.
»Ich will aber nicht, dass sie mein Babysitter ist. Und außerdem bin ich kein Baby mehr.«
»Angela wollte damit nicht sagen, dass du noch ein Baby bist, sondern nur, dass sie sich um dich kümmern kann.«
»Ich will aber Jerome. Er lässt mich mit seiner Glock spielen.«
»Was er sowieso nicht tun sollte, Schatz.«
»Jerome sagt, Glocks sind viel besser als Sigs.«
Amber wirft mir einen hilflosen Blick zu.
»Gibt es bei Der Herr der Ringe eigentlich auch Waffen, mein lieber Arthur?«
Der Knirps sieht mich an, als wäre ich der letzte Vollidiot. »Wenn Frodo eine Glock eingepackt hätte, dann hätte er Sauron ziemlich leicht fertigmachen können. Verdammt, das hätte er sogar mit einer Sig geschafft.«
16
Ein paar Meilen außerhalb von Miami checken wir in einem altmodischen Motel am Straßenrand ein. Es besteht aus zweigeschossigen Gebäuden, die u-förmig um einen Innenhof angelegt sind, und obwohl es zweifellos schon bessere Tage gesehen hat, bin ich hingerissen von den Details – von den kitschigen Schildern (»Air Condition – Kabel- TV – Pool – Discount«) bis hin zu den rosa gestrichenen Wänden und dem Cola-Automaten in der Lobby. Wir lassen uns zwei angrenzende Zimmer im Erdgeschoss geben. Kaum bin ich allein, wähle ich mit zittrigen Fingern die Handynummer meines Agenten.
»Hast du meine Nachricht bekommen, Gerald? Hör zu. Ich mach’s kurz: Amber – Miss Glatt – hat für heute Abend eine Verabredung mit meinem Bruder Tony.«
»Ich wusste ja gar nicht, dass du einen Bruder hast, Bill.« In Geralds Stimme liegt eine angenehme Ruhe. Offenbar bringt ihn so schnell nichts aus dem Konzept. Im Gegensatz zu mir.
»Ich habe auch keinen Bruder, Gerald. Amber geht mit Angelas Bruder aus. Und der bin ich. Sie – wir – sind Zwillinge. Natürlich keine eineiigen. Er heißt Tony und ist Experte für Mikrotubuli. Verstehst du, was ich dir damit sagen will?«
»Ich muss zugeben, die Details sind ein bisschen verwirrend.«
»Amber hat einen kleinen Sohn, auf den ich aufpassen soll, während sie weg ist.«
»Faszinierend.«
»Und genau da kommst du ins Spiel.«
»Bill, ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, wenn ich dir das sage, aber du redest völlig sinnloses Zeug daher.«
»Tut mir leid. Atme tief durch. Konzentrier dich.«
Nach einer kurzen Pause lege ich ihm geduldig meinen brillanten Plan dar:
1.)Amber macht sich auf den Weg zu ihrem Rendezvous mit dem Arzt, während Angela bei ihrem Sohn bleibt.
2.)Kaum sind die Rücklichter des Taxis außer Sichtweite, betritt Gerald die Bühne.
3.)Er übernimmt das Babysitting, während Angela Kopfschmerzen vorschützt und sich auf ihr Zimmer zurückzieht.
4.)Angela verwandelt sich so schnell es geht in Tony und folgt Amber in die Stadt, wo er nur wenige Minuten nach ihr am verabredeten (noch näher zu bestimmenden) Treffpunkt ankommt.
5.)Bitte entschuldigen Sie die Verspätung, sagt er, aber ich musste noch den Vorsitzenden der Weltgesundheitsorganisation in die Geheimnisse der Mikrotubuli einweihen. Oder irgendeinen anderen selbstherrlichen Blödmann.
6.)Das Rendezvous nimmt seinen Lauf.
7.)Am Ende nimmt Amber ein Taxi zum Motel, wo sie Gerald vorfindet, der deutsche Gedichte rezitiert, während ihr Sohn selig schlummert. Gerald stellt sich ihr als Angelas Agent vor – William Greefe.
8.)Tony wartet eine Weile, ehe auch er ins Hotel zurückkehrt und leise sein Zimmer betritt, um am nächsten Morgen wieder als Angela in Erscheinung zu treten.
»Du musst zugeben, dass das ein ziemlich schlauer Plan ist.«
Ein tiefer Seufzer dringt durch die Leitung. »Wie alt, sagtest du, ist dieser Junge noch mal?«
»Sieben.«
»Bill, von der Schlauheit des Projekts einmal
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