VILM 02. Die Eingeborenen (German Edition)
bewohnt – Hotels, die Botschaften von Galdäa, Utragenorius, Karna und Atibon Legba, eine Filiale des epsilonischen Instituts, der Sitz des päpstlichen Nuntius und natürlich der ausschweifende Palast der Goldenen Bruderschaft, auch wenn die Goldenen selbst den Begriff Palast niemals in den Mund nahmen. Es gab auf Vilm keine höheren Bauwerke, das Fast-in-den-Wolken ausgenommen. Und das war ein Geschenk von Galdäa gewesen. Galdani hatten einen Hang dazu, in die Höhe zu bauen. Es sollte auf Galdäa einen Turm geben, auf dessen Spitze man nicht atmen konnte, so weit ragte er in die dünne Luft der oberen Atmosphäre. Nun ja, dachte Marja, da die Geschichten über das absonderlich gemischte Leben auf Oniskus sich als wahr erwiesen haben, mag auch diese Legende einen wahren Kern besitzen. Jetzt kam es darauf an, möglichst schnell Will zu finden und mit ihm darüber zu sprechen, was diese Touristen über Vilm gesagt hatten. Marja wollte wissen, ob das wahr sein konnte. Das Wie und Warum interessierte sie nicht, nur das: Stimmte es, dass Vilm keinen Ort staunender, atemloser Bewunderung hervorbringen konnte? Und durfte man diesen Leuten zeigen, dass sie unrecht hatten?
Sie konnte noch am selben Tag mit Will Carlos reden. Der Administrator hörte sich, wie das seine Art war, alles wortlos an. Will hatte es inzwischen aufgegeben, sich gegen den Posten zu wehren, der ihm nach Tinas Ermordung wortlos aufgehalst worden war. Schließlich war es nur ein Job, der zu tun war. Und es war ein unschätzbarer Vorteil, dass er mit den kniffligsten Problemen zu Carl oder einem anderen Stummblinden gehen konnte. Niemand nahm es ihm krumm, schließlich galt Carl inzwischen als Guru. Dabei sah er die Dinge nur aus einer anderen Perspektive. Will hatte sich mit den Umständen arrangiert. Er hatte aufgehört, mit seinem Übergewicht zu hadern, und war wieder genauso pummlig, wie er sich wohlfühlte. Sein Eingesicht – Will-J – lag reglos neben dem Schreibtisch und hielt seine Augen aufmerksam auf Marja-J gerichtet. Will dachte nach, als Marjas kleine Erzählung beendet war. Dann stand er auf und trat vor das Bild Tinas, eine zufällig entstandene Aufnahme, die sie mitten in einer Rede zeigte, die sie mit der ihr eigenen Vehemenz vortrug. Es war das einzige Bild, das es von ihrer Zeit als unfreiwilliger Chefin der Vilmregierung gab. Es war nicht schmeichelhaft, bloß charakteristisch.
Will starrte das Bild ein paar Sekunden lang an. Dann drehte er sich zu Marja um und fuhr sich mit den Fingern durch die kurzgeschnittenen Haare, die an den Schläfen und im Nacken grau wurden, obwohl Will erst einunddreißig war. »Wir könnten«, sagte er, »das Gerede dieser oniskäischen Touristen als dünkelhaftes Gewäsch abtun. Wir könnten die Achseln zucken und zur Tagesordnung übergehen. Das sind lediglich ein paar reiche Fremdlinge, die nicht die Hälfte von dem begreifen, was sie sehen. Wir könnten überhaupt alles ignorieren, was die Außenweltler über uns sagen und denken. Aber irgendetwas sagt mir, dass wir das nicht tun sollten.« Will wusste nicht, woher der Entschluss kam, diese Angelegenheit weiter zu bedenken, sie ernster zu nehmen, als es notwendig war. Er konnte nicht begründen, warum er das tun wollte. Das sagte er Marja.
Sie wies auf Marja-J, der sich eng an sie drückte. »Ich denke genauso wie du. Ich kann es nicht begründen, weswegen mir das so naheging. Ich weiß sicher, dass es richtig ist, diesen drei Ignoranten etwas zu zeigen, das sie eines Besseren belehrt. Ich weiß nicht, ob wir das jetzt tun sollten.«
»Manchmal«, sagte Will, »kann ich nur froh sein, dass wir dank der Eingesichter etwas mehr als bloß vernünftig sind.«
Marja lachte, und die beiden Sechsfüßer führten einen kleinen ausgelassenen Tanz auf, ehe man an die Arbeit ging. Eine Menge Leute musste gefragt werden, Entschlüsse waren zu fassen, um eine Geheimhaltung zu durchbrechen, die in der kurzen Geschichte Vilms ihresgleichen suchte. Nichts davon wäre zu schaffen gewesen, hätten sich die Oniskier nicht Zeit gelassen mit ihrem Ausflug zur größten Pflanze des bekannten Kosmos, wie es in manchen Texten über Vilm hieß. Familie Kadoupoulos brauchte schlicht die doppelte Zeit wie üblich, um mit dem Schweber bis zur Barriere und zurück zu gelangen, zahlreicher uneingeplanter Zwischenstopps wegen, einige anlässlich eines vorübersausenden Springwolfs, andere infolge der Spuren einer Horde Rehschweine. Die drei Eheleute vertrödelten
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