Voll daneben
Einen Anruf nehmen wir vor den Sechs-Uhr-Nachrichten noch entgegen. Was meint ihr? Aus dem Knast holen oder vor die Tür setzen? In der Leitung ist Vince.«
Ich halte den Atem an. Bitte stimme für mich . Ich fühle mich wie einer dieser Bewerber für eine Reality-Show, der grinsend das Zeichen für ›Ruf an‹ in die Kamera macht, wenn seine Nummer auf dem Bildschirm angezeigt wird.
»Keine Frage: Lass ihn in der Zelle sitzen und ruf die Eltern an«, meint Vince. »Pete, ich arbeite seit zwanzig Jahren als Psychologe, und der Junge muss seine Lektion lernen. Ich wette, erist deswegen so verkorkst, weil seine Eltern keine Strenge zeigen. Wenn er schon siebzehn ist, kann man nicht mehr viel machen, und um ehrlich zu sein: Es ist nicht dein Problem. Es klingt, als hätten die Eltern ihn loswerden wollen, weil sie mit ihm nicht mehr fertig werden, und jetzt hast du ihr Problem am Hals. Du musst ihm Grenzen setzen.«
Tante Pete unterbricht den Hörer. »Ja, aber glaubst du wirklich, im Alter von siebzehn ist es schon hoffnungslos? Ich weiß nicht. Als ich siebzehn war, machte ich meinen Eltern schwer zu schaffen. Ich putzte mich auf wie die Jungs von Slade und klaute die Wimperntusche meiner Mutter. Meine Alten haben mich rausgeschmissen, und bis heute reden sie nicht mit mir, weil es ihnen immer noch peinlich ist. Wie kann ich da dem Jungen dieselbe Botschaft übermitteln?«
Vince versucht verzweifelt, ihn zu unterbrechen.
»Nein, aber ... das ist genau das Problem. Alle haben Angst davor, die Verantwortung dafür zu übernehmen, falls der Junge als Straftäter endet. Man muss streng, aber gerecht sein.«
»Das stimmt.«
»Ich sag dir, Pete, das ist die Lösung.«
»Ich verstehe, was du meinst, Mann.« Es rauscht, weil das Funksignal unterbrochen wird, und dann driftet Tante Petes Stimme wieder in den Raum.
»... so, wir müssen die Abstimmung beenden. Es ist sechs Uhr, und wir bringen noch weitere Hits mit Dean und Donna, all eure Country-Lieblingssongs, aber jetzt verlasse ich euch mit Alice Cooper, der das Urteil fällt. Oh je, sieht aus, als wäre mein Neffe fällig. Hier kommt ›No More Mr Nice Guy‹. Ich bin der Rockende Pete. Euch allen eine gute Nacht.«
Und das war’s.
40
DRAUSSEN VOR MEINER ZELLE ertönen Schritte, aber ich stehe nicht auf. Wozu auch? Ich kenne das Urteil schon.
»Ist er wach?«
Ich höre das Quietschen des Drehstuhls.
»Er schläft seinen Rausch aus. Hast du über alles nachgedacht?«
Pete atmet hörbar langsam aus. »Und wie! Er hat dir keine Schwierigkeiten gemacht, oder?«
Dino lacht ironisch. »Nee. Keine Schwierigkeiten. Ich glaube, er hat bloß Angst. Bevor er einschlief, wirkte er etwas elend.« Er hält inne. »Also wie sieht es aus? Ich muss es wissen, bevor die nächste Schicht kommt. Wir werden ihn entweder in Haft nehmen oder du kannst ihn mit nach Hause nehmen, aber dann muss es bald passieren.«
Nach einer Schweigepause höre ich ein Seufzen.
»Ich nehme ihn mit nach Hause«, sagt Tante Pete, aber ich weiß, es ist nur vorübergehend.
Dino klopft an das Zellengitter.
»Pete ist da«, sagt er zu mir. »Zeit zu gehen.«
Ich tue so, als würde ich aufwachen, aber im Grunde kann ich mir das Schauspiel sparen. Was kümmert es sie schon? Dino und Pete sind zu sehr damit beschäftigt, über die Last zu klagen, die ich bin. Das ging nun echt voll daneben!
Ich stehe auf und verlasse die Zelle. Dino macht die Tür hinter mir zu.
»Ich will dich hier drin nie wieder sehen«, sagt er. »Das hier war dein erster und letzter Besuch, verstanden?«
Ich nicke und versuche zu schlucken, aber es funktioniert nicht. Am liebsten würde ich mich übergeben.
»Komm schon«, sagt Pete. »Wir reden zu Hause darüber.«
Wir trotten hinaus zum Nissan, und ich spüre, dass er genauso müde ist wie ich. Auf der Heimfahrt sagt keiner von uns ein Wort. Pete wartet wahrscheinlich darauf, dass ich mich entschuldige, aber mir dröhnt der Kopf und ich denke: Warum sollte ich es versuchen ? Ganz Pineville hat gegen mich gestimmt, also was gibt es da noch zu diskutieren?
Als wir am Mobilheim ankommen, sagt Pete: »Du siehst furchtbar aus.«
Ich nicke.
»Ich habe deine Mutter angerufen«, fügt er hinzu.
»Kommt sie mich abholen?«
Er zögert. »Nein.«
»Dann also Dad?«
»Warum denkst du, er würde dich holen?«
Ich überlege, ob ich ihm sagen soll, dass ich die Radiosendung gehört habe, aber dann zucke ich bloß die Achseln.
»Das ist alles?«, fragt er. »Du landest im
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