Vollmeisen
Simon mich nicht erst in den letzten Wochen total verarscht hatte. Erst wollte ich selbst Klarheit haben, was er da abgezogen hatte. Danach könnte ich ihnen immer noch davon erzählen.
»Na ja, meine Mutter war zwar nicht da, aber meine Schwester. Und als wir los wollten und die Haustür aufmachten, standen da der Belgier und zwei seiner Kumpane vor der Haustür. Sie drängten uns ins Haus, fuchtelten mit ihren Pistolen herum und schoben uns schlieÃlich raus zu meinem Auto, also zu dem aus dem Dorf. Damit haben sie uns dann zu einer schäbigen Werkstatt in einem üblen Gewerbegebiet gefahren.« So. Ab jetzt konnte ich bei der Wahrheit bleiben. Ich erzählte von dem Pieks und wie wir erst im Seniorenstift wieder zu uns gekommen waren und vor allem von unseren Pflichten.
»Okay, stopp«, sagte der Kommissar, »habe ich das richtig verstanden? Sie waren Geiseln, die sich um den Haushalt des Seniorenheimes gekümmert haben?«
»Ja, so war das«, erwiderte ich. »Der Vincent hat das erfunden. Er nennt das âºoptimierte Nutzhaltung von Geiselnâ¹.«
Beide sahen mich fassungslos an. Der Kommissar fand als Erster die Sprache wieder. »So etwas Absurdes habe ich noch nie in meinem Leben gehört. Aber bei Ihnen scheint ja einiges anders zu sein als normalerweise. Nur, wenn Sie und Ihre Schwester dort gearbeitet haben, dann müssen Sie sich doch zumindest im Haus frei bewegt haben können. Hatten Sie denn nicht früher die Möglichkeit zur Flucht oder wenigstens die Chance, ein Telefonat zu führen?«
»Nein, nein«, lachte ich, »so doof ist der Vincent ja nun auch nicht. Natürlich hat er uns weisgemacht, dass er auch unsere Mutter als Geisel hätte und ihr etwas antun würde, wenn wir fliehen oder jemanden informieren sollten.«
»Ihre Mutter war auch eine Geisel?«, fragte Schlüter schwach.
Der Mann hörte einfach nicht zu. »Sie war natürlich keine Geisel. Wir sollten das nur denken. Und das haben wir auch. Also, jedenfalls eine Zeitlang. Doch dann wurde uns klar, dass er uns wahrscheinlich angelogen hatte.«
Schlüter seufzte. »Ich fasse mal zusammen. Vincent Laurent und zwei weitere Männer haben Ihnen und Ihrer Schwester vor dem Elternhaus aufgelauert. Sie haben Sie mit einer Waffe bedroht und Ihnen eine Droge gespritzt. Daraufhin schliefen Sie ein und wachten erst wieder im Seniorenstift auf. Dort arbeiteten Sie vier Tage in der Küche und den Zimmern, bis Ihnen die Flucht in einem Wäschereiwagen gelang und Sie anschlieÃend per Anhalter nach Hause fuhren. Ist das so weit richtig?«
Ich strahlte. »Genau so war es, Herr Kommissar.«
»Nick, was meinst du?«, fragte er.
»Tja, Hans, mir geht es wie dir. Ich habe so etwas auch noch nie gehört. Du weiÃt, wie lange ich schon bei der Truppe bin. Ich habe Drogendealer erlebt, die sich gegenseitig wegen Kleinigkeiten erschossen haben. Durchgeknallte, die Leute verstümmelten, weil einen Tag zu spät gezahlt wurde. Aber so was â nein. Doch ich würde sagen, so etwas kann nur unserer Alice hier passieren.«
Wenigstens zwinkerte er mir bei diesen Worten heimlich zu.
»Nun denn«, sagte Schlüter, »eine unangenehme Geschichte, aber mit glücklicherweise gutem Ende. Bitten Sie doch jetzt Ihre Schwester herein. Aber nur die Schwester, nicht Ihre Mutter.«
Hörte sich an, als hätte er am liebsten noch ein »bitte, bitte« angehängt.
Ich ging auf den Flur zu Melinda, sagte meiner Mutter, dass sie auch gleich drankäme, und zog Melinda an mich: »Ich habe dich nicht verpetzt, die haben uns zu Hause aufgelauert, habe ich gesagt.«
»Danke«, flüsterte Melinda zurück, und gemeinsam gingen wir wieder ins Büro.
»So, Frau Wörthing«, begrüÃte Schlüter sie, »von Ihnen brauchen wir nur die Bestätigung der Aussage Ihrer Schwester.«
»Okay«, gab Melinda zurück, »aber können Sie mich bitte Melinda nennen, sonst komme ich durcheinander und denke, Sie meinen meine Schwester.«
Schlüters rechtes Augenlid begann zu zucken. »Gut, Melinda, erzählen Sie mir kurz, was in den letzten vier Tagen vorgefallen ist.«
Dank meiner Hilfe erzählte sie so ungefähr das Gleiche wie ich. Allerdings setzte sie noch hinzu, dass mir die Milch angebrannt war. Das hätte sie sich definitiv sparen können.
Nick versuchte, sein Grinsen zu unterdrücken und
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