Vorkosigan 13 Komarr
strikte Regeln den Piloten der Fähre untersagten, Passagiere auf das Flugdeck zu lassen, und im Übrigen handelte es sich sowieso nicht einmal um ein Sprungschiff. In Wirklichkeit freute sich Ekaterin aber auf die Gelegenheit, ungestört und offen mit ihrer Tante über die letzten Jahre ihres Lebens mit Tien zu reden, ohne dass Nikki jedes Wort mitbekam. Ihre angestauten Gedanken kamen ihr wie ein übervolles Reservoir vor; sie drehten sich unaufhörlich in ihrem Kopf.
Die Beschleunigung war kaum zu spüren, als die Fähre vorwärtsflog. Sie steckte die Buchdiskette über Verwaltung von Nachlässen und Finanzen, die der Anwalt ihr
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empfohlen hatte, in ihr Lesegerät und lehnte sich zurück.
Der Rechtsberater hatte Vorkosigans Vermutung bestätigt, dass Tiens Schulden mit seinem Nachlass endeten. Nach zehn Jahren würde sie also mit genau nichts weggehen, mit leeren Händen, wie sie gekommen war. Abgesehen von
den Werten der Erfahrung … sie schnaubte. Wenn sie jetzt darüber nachdachte, dann zog sie es eigentlich vor, dass sie Tien für nichts zu Dank verpflichtet war. Sollten alle Schulden doch verfallen.
Die Diskette bot trockenen Stoff, doch als Belohnung für ihre Hausaufgabe wartete eine Diskette über escobaranische Wassergärten. Es stimmte, dass sie noch kein Geld zu verwalten hatte. Auch das musste sich ändern. Wissen mochte nicht Macht bedeuten, aber Unwissenheit war
bestimmt Schwäche, und Armut war es ebenfalls. Es war höchste Zeit, dass sie aufhörte zu denken, sie sei das Kind, und alle anderen die Erwachsenen. Ich habe einmal am Boden gelegen. Ich werde nie wieder zu Boden gehen.
Nach zwei Stunden ununterbrochenem Schlummer
erwachte Ekaterin und machte sich zurecht, als die Fähre angekommen war und mit dem Manöver zum Andocken
begann. Sie packte wieder ihre Reisetasche, zog deren Schulterriemen hoch und ging, um durch die Sichtfenster des Salons zu beobachten, wie sie sich der Transferstation und dem vor ihr bedienten Sprungpunkt näherten.
Diese Station war vor etwa einem Jahrhundert gebaut worden, als eine neue Erforschung des Wurmlochs die Wiederentdeckung von Barrayar ergeben hatte. Die
verlorene Kolonie war am Ende einer komplexen Multi454
sprungroute gefunden worden, die sich völlig von der unterschied, durch die der Planet ursprünglich besiedelt worden war. Während der Periode der cetagandanischen Invasion war die Station modifiziert und vergrößert worden; Komarr hatte den Ghem-Lords das Durchgangsrecht eingeräumt, im Austausch für beträchtliche Handelskonzessionen im gesamten cetagandanischen Kaiserreich, ein Handel, den Komarr später bereut hatte. Dann war eine ruhigere Periode gefolgt, bis die Barrayaraner, erzogen in der harten Schule der fehlgeschlagenen cetagandanischen Okkupation, ihrerseits durch das Wurmloch geströmt
waren.
Unter der neuen Barrayanischen Kaiserlichen Verwaltung war die Station wieder gewachsen und zu einem ausgedehnten und chaotischen Bauwerk geworden, das
etwa fünftausend dort lebende Angestellte, ihre Familien und eine fluktuierende Anzahl von Transitpassagieren beherbergte und pro Woche einigen hundert Schiffen als Haltepunkt diente, die auf der einzigen Route nach und von Barrayar unterwegs waren, das sich in einer galaktischen Sackgasse befand. Eine neue, lange Andockspeiche befand sich in Bau und ragte aus der stachelig wirkenden Struktur heraus. Die barrayaranische militärische Raumstation war ein heller Punkt in der Ferne, auf der anderen Seite des unsichtbaren Sprungpunktes in den fünfdimensionalen Raum. Ekaterin sah ein halbes Dutzend Schiffe auf dem Weg zwischen der zivilen Station und dem Sprungpunkt, die teils am Dock anlegten oder abflogen, dazu ein paar Lokalraumfrachter, die mit Lasten davontuckerten, die sie zu einem der anderen Wurmlochsprungpunkte transpor455
tierten. Dann glitt die Fähre selbst in ihre Andockbucht, und die riesige Station versperrte den Blick.
Da die lästigen Zollkontrollen schon im Orbit von
Komarr erfolgt waren, bevor man an Bord der Fähre ging, konnten sich die Passagiere zwanglos ausschiffen. Ekaterin zog ihren Holo-Kubus mit dem Plan der Station zu Rate, der in diesem phantastischen Labyrinth unentbehrlich war, und ging zu einem Hotel, um dort ein Übernachtungszimmer für sich und ihre Tante zu mieten und ihr Gepäck zu deponieren. Das Zimmer war klein, aber ruhig, und würde vollauf genügen, um der armen Tante Vorthys
Gelegenheit zu geben, sich von ihrer Sprungkrankheit zu erholen,
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