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Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Titel: Wahnsinn, der das Herz zerfrisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Murray ein paar alte Sachen ausgeliehen - Byrons wären ihr mittlerweile zu eng gewesen - und genoß es, im Dahinfliegen die reine, kalte Luft des Winters einzuatmen.
    Bei einer der wenigen Ulmen, die der böse Lord übrig gelassen hatte, machte sie halt, drehte sich einmal um den Baum und lief wieder zu Byron zurück. »Oh dear, ich habe doch keine Völkerwanderung vor! Und«, sie lächelte ihm zu, »als Mutter von drei Kindern kann ich dir versichern, daß ich weiß, was für mich gefährlich ist, und was nicht. Bestimmt nicht ein Spaziergang!« Byrons wegen konnten sie ohnehin nicht schnell laufen.
    Da der See vor der alten Abtei zugefroren war, hätten sie ihn überqueren können. Aber hier zögerte Augusta. »Laß uns außen herum gehen.«
    »Was denn, du Amazone, hast du Angst?« Das hätte er lieber nicht sagen sollen. Blitzschnell griff sie nach dem Schnee und stäubte ihn ihrem Bruder so lange ins Gesicht, bis er lachend um Gnade bat. Er wischte sich die letzten Überreste ihrer unvermuteten Attacke aus Gesicht und Kragen und sah sie an, wie sie da in den abgelegten Männerkleidern stand, mit funkelnden Augen, die Haut von der kalten Luft und der Anstrengung gerötet. Völlig ernst sagte sie auf einmal: »Ich liebe dich.«
    »Ich liebe dich.«
    »Und für wie lange?« Das war ein Ritual, das sich zwischen ihnen eingespielt hatte. »10.000 Jahre und noch einen Tag mehr.«
     
    An diesem Tag war es der Post gelungen, sich nach Newstead Abbey durchzuschlagen. Obwohl sie jetzt beide die mittlerweile geschriebenen Briefe aufgeben konnten, fühlten sie sich irgendwie gestört. Übrigens bekamen auch beide ihren Teil Nachrichten aus der Welt. Byron erhielt einen ganzen Stoß Briefe von Hobhouse, Davies, Kinnaird, Moore, dem Verleger Murray, Lady Melbourne, Annabella Milbanke (»natürlich«) und Caroline Lamb (»o nein!«).
    »Da, für dich, von Spooney!« sagte Byron und warf Augusta ein versiegeltes Päckchen zu. Augusta machte sofort ein besorgtes Gesicht. Spooney war sein Spitzname für Hanson. Dieser schickte neben einigen Zinspapieren auch die Nachricht, trotz der Geldsumme, die ihr Byron inzwischen geliehen hatte, könne George von der Bank, bei der er verschuldet war, kein weiterer Aufschub gewährt werden. Byron sah die Miene seiner Schwester und runzelte die Stirn.
    »Setzt der alte Schuft dir zu? Mir schickt er auch nur Hiobsbotschaften. Er will unbedingt, daß ich Newstead Abbey verkaufe.
    Ich hätte es im letzten Sommer fast getan, aber der Mann, den Spooney als Käufer ausfindig gemacht hatte, war ein Betrüger.«
    »Vielleicht«, erwiderte Augusta nachdenklich, »sollte ich Six Mile Bottom auch verkaufen. Aber wer will schon ein so hoch verschuldetes Gut haben!« Sie hob den Kopf und schenkte ihm ihr jähes, geheimes Lächeln, das ihn immer eine Sekunde lang schwindlig werden ließ. »Da hast du es mit Newstead leichter -
    das ist schon vom Inventar her interessanter!«
    Er wußte, was sie meinte. Bei ihrer Ankunft hatte er ihr beiläufig aus den Schädelbechern zu trinken gegeben, mit denen er bis jetzt noch jeden Besucher schockiert hatte. Es war nicht böse gemeint gewesen, er wollte nur wissen, wie sie reagierte. Augusta hatte den Totenkopf, ohne mit der Wimper zu zucken, in die Hand genommen und daraus getrunken. »Exzellent. Dein Wein ist wirklich hervorragend, Liebster, aber meinst du nicht, du könntest dir allmählich neues Geschirr anschaffen? Falls du nicht auf die Mitgift der noch zu heiratenden reichen Lady Byron warten willst.« Er kam sich noch jetzt, im nachhinein, ausgesprochen kindisch vor.
    Es schneite wieder, aber beide wußten sie, daß ihr gemeinsamer Winter nicht mehr lange dauern konnte. Bald waren die Straßen einigermaßen passierbar. Am sechsten Februar verließ Augusta Newstead Abbey.
     
    Byron blieb nur einen Tag länger in Newstead, dann kehrte auch er nach London zurück. In der Stadt gingen bereits die ersten heimlichen Andeutungen und Gerüchte um. Sie hatten ihren Ursprung weder in Lady Melbourne noch in Fletcher oder Murray (die blind hätten sein müssen, um nichts zu bemerken, aber viel zu loyal waren, um irgend jemandem etwas zu erzählen), sondern in Byron selbst. Die Gesellschaft war von ihm fasziniert und stimmte doch Lady Caroline Lambs Urteil zu, er sei
    »verrückt, schlimm und gefährlich zu kennen«.
    Infolgedessen wurde er genauer beobachtet als der Prinzregent, dessen öffentliche Bigamie ohnehin für niemanden ein Geheimnis blieb. Jede von Byrons

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