Walburgisöl - Oberbayern-Krimi
herüberwehte.
Ein anstrengender Tag lag hinter Morgenstern, das wurde ihm erst jetzt richtig bewusst, als er allmählich zur Ruhe kam. Seine beiden Söhne lagen bestimmt schon lange im Bett, und Fiona las wahrscheinlich noch ein Buch. Sollte er nicht tatsächlich schnell noch für eine Maß ins Festzelt gehen? Als Ausklang?
Morgenstern riss sich am Riemen. Nein, besser nicht. Er kannte sich. Wie oft war aus dem geplanten einen Bier ein zweites, drittes, gar viertes geworden. Und morgen, so viel war klar, konnte er sich keinen Brummschädel leisten. Nicht wenn er diesem Erwin Zachinger auf den Zahn fühlen sollte. Außerdem: Das Volksfest ging noch die ganze Woche.
Mit dem guten Gefühl, mannhaft der Versuchung widerstanden zu haben, drückte Morgenstern das Gaspedal bis zum Bodenblech durch.
Zehn Minuten später fand er sich im Irish Pub in der Eichstätter Altstadt wieder – in seiner urgemütlichen Lieblingskneipe, die ohne Weiteres im Herzen von Dublin hätte stehen können. Aber heute bleibt es wirklich nur bei einem einzigen Guinness, schwor er sich, als er umgeben von einem Dutzend gut gelaunter Gäste am Tresen stand, die offenbar allesamt mit dem Volksfest wenig anfangen konnten. Andere Eichstätter Kneipen hatten während der »Wiesn« schlichtweg geschlossen, nicht aber der Pub.
Zufrieden nippte Morgenstern an seinem süßbitteren Bier und hörte der Musik aus den Lautsprechern zu. Die Pogues, stellte er fachmännisch fest und sang vor lauter Freude ein bisschen mit: »Dirty old Town …« Unwillkürlich musste er daran denken, wie wenig das herausgeputzte, idyllische, barocke Eichstätt mit der heruntergekommenen nordenglischen Industriestadt zu tun hatte, die in diesem melancholischen Lied besungen wurde. Morgenstern sang trotzdem weiter mit, eine Angewohnheit, die ihm regelmäßig die Aufmerksamkeit der anderen Gäste sicherte. So auch dieses Mal. Der junge Mann, der auf dem Barhocker neben ihm saß, sah ihn erstaunt an und sang dann zu Morgensterns Überraschung textsicher die letzte Strophe mit. Es war eine ausgesprochen düstere Strophe, die davon handelte, eine scharfe Axt aus hartem Stahl zu besorgen und damit die »Dirty old Town«, die dreckige alte Stadt, in Trümmer zu hauen. Morgenstern lächelte seinen neu gewonnenen Sangesbruder kameradschaftlich an, und als das Lied zu Ende war, stießen die beiden mit ihren Pints an. »Mike«, sagte Morgenstern. »Jonas«, sagte sein Nachbar.
Sie plauderten eine Weile angeregt, aber als die Frage nach seinem Beruf aufkam, antwortete Morgenstern nur vage, er arbeite als »Beamter« und wohne hier ganz in der Nähe, weswegen er hie und da auf einen Absacker vorbeikomme. Er gab sich im Privatleben nicht gern als Polizist, gar als Kriminalbeamter zu erkennen. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass ihn die Menschen dann plötzlich als eine Art Amtsperson sahen, als personifizierte Staatsgewalt. Eine Rolle, mit der er nicht gut zurechtkam. Jonas wiederum war frisch gebackener Abiturient und arbeitete seit zwei Monaten als Zivildienstleistender in einem der beiden Eichstätter Altenheime: im städtischen Heilig-Geist-Spital, gleich hinter dem Dom, auf der anderen Seite der Altmühl.
»Ein Zivi«, sagte Morgenstern und musterte Jonas neugierig. Der junge Mann war ihm sympathisch. Seine Rastafarifrisur versuchte er mit einer selbst gestrickten grün-gelb-schwarzen Wollmütze zu bändigen; dazu trug er einen verwaschenen Pullover mit Ringelmuster, wie ihn Morgenstern zuletzt auf Fotos des legendären Studentenführers Rudi Dutschke gesehen hatte. Weite Jeans und Leinenturnschuhe rundeten das Bild ab. Jonas war ein gut aussehender Bursche mit großen braunen Augen, und Morgenstern war sich sicher, dass ihm die Herzen der Eichstätter Mädchen zuflogen. Vor allem als sich herausstellte, dass der Junge leidenschaftlicher Kletterer war, der im Sommer am Dollnsteiner Burgsteinfelsen oder im Konsteiner »Klettergarten«, am sogenannten Dohlenfelsen, die höchsten alpinen Schwierigkeitsgrade bewältigte.
»Im Winter klettere ich in der Kletterhalle des Alpenvereins, die ist im ehemaligen Getreidelager der Hofmühlbrauerei. Ich leite da eine Kinder-Klettergruppe.«
Morgenstern horchte auf. »Wie alt sind die Kinder denn? Ich habe nämlich zwei Söhne, für die könnte ich mir das gut vorstellen«, erklärte er. »Die brauchen immer Bewegung.«
»Ab acht Jahren können sie mitmachen. Von mir aus können Sie die ruhig mal vorbeischicken, auch wenn die Kurse schon
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