Wallander 06 - Die fünfte Frau
dessen, was er vor sich sah, eigentlich gar nicht bewußt. Danach war er mehrere Stunden lang ruhelos außerhalb der Absperrung umhergelaufen, bis Wallander plötzlich entdeckte, daß er verschwunden war.
Wallander kam sich in dem Graben wie eine gefangene und durchnäßte Ratte vor. Er sah seinen engsten Mitarbeitern an, daß sie nur unter Aufbietung äußerster Selbstüberwindung durchhielten. Sowohl Svedberg als auch Hansson hatten wegen akuter Übelkeit mehrfach den Graben verlassen müssen. Nur Ann-Britt Höglund, die er am liebsten schon am frühen Abend nach Hause geschickt hätte, schien von dem, was sie tat, merkwürdig unangefochten zu sein. Sie war als eine der ersten eingetroffen und hatte den Einsatz am unübersichtlichen Tatort organisiert, damit die Leute nicht unnötig ausglitten und übereinander fielen. Ein junger Polizeianwärter war im Schlamm ausgerutscht und in den |82| Graben gefallen. Er hatte sich an einer der Stangen die Hand verletzt und mußte sich vom Arzt verbinden lassen, der nach einer Möglichkeit suchte, die Leiche zu bergen. Wallander hatte gesehen, wie der Anwärter ausrutschte, und in einer blitzartigen Vision geahnt, wie es vor sich gegangen sein mußte, als Holger Eriksson fiel und aufgespießt wurde. Als erstes hatte er mit Nyberg, ihrem Techniker, die schweren Planken untersucht. Sven Tyrén hatte bestätigt, daß sie einen Steg über den Graben gebildet hatten. Holger Eriksson hatte sie selbst dorthin gelegt. Tyrén hatte ihn einmal zum Turm auf dem Hügel begleitet und erzählt, daß Holger Eriksson ein passionierter Vogelbeobachter gewesen sei. Es war also kein Hochstand, sondern ein Aussichtsturm. Das Fernglas aus dem leeren Futteral hing um Holger Erikssons Hals. Sven Nyberg brauchte nur ein paar Minuten, um festzustellen, daß die Planken so weit angesägt worden waren, daß ihre Tragfähigkeit nahezu aufgehoben war. Nach dieser Information war Wallander aus dem Graben gestiegen und zur Seite getreten, um nachzudenken. Er versuchte, sich den Verlauf des Geschehens vorzustellen. Aber es gelang ihm nicht. Erst als Nyberg konstatierte, daß das Fernglas ein Nachtsichtgerät war, meinte er zu ahnen, wie alles vor sich gegangen war. Gleichzeitig hatte er Schwierigkeiten, seiner eigenen Vorstellung zu trauen. Wenn er recht hatte, so war dieser Mord mit einer beinahe unvorstellbar grauenhaften und brutalen Perfektion vorbereitet worden.
Am späten Abend begannen sie damit, den Körper des Toten aus dem Graben zu bergen. Gemeinsam mit dem Arzt und Lisa Holgersson mußten sie entscheiden, ob sie die Stangen ausgraben oder absägen sollten oder ob sie die fast unerträgliche Alternative wählen sollten, den Körper von den Stangen zu ziehen.
Auf Wallanders Anraten wählten sie die letzte Möglichkeit. Seine Mitarbeiter und er mußten den Mordplatz exakt so sehen können, wie er war, bevor Holger Eriksson den Steg betreten hatte und in den Tod gestürzt war. Erst nach Mitternacht waren sie fertig; der Regen hatte nachgelassen, und man hörte nur noch das Surren eines Generators und die schmatzenden Geräusche von Stiefeln im matschigen Lehm.
Danach entstand ein Moment der Untätigkeit. Jemand hatte |83| Kaffee gebracht. Übermüdete Gesichter leuchteten gespensterhaft im weißen Licht. Wallander wußte, daß er sich zu einem Überblick aufraffen mußte. Was war eigentlich geschehen? Wie sollten sie weiterkommen? Alle waren erschöpft, und es war schon nach Mitternacht. Sie waren erschüttert, durchnäßt und hungrig. Martinsson stand da und preßte ein Handy ans Ohr. Wallander fragte sich zerstreut, ob er seine ständig besorgte Frau beruhigte. Aber als Martinsson das Gespräch beendet und das Handy in die Tasche gesteckt hatte, teilte er ihnen mit, daß er mit einem Meteorologen in der Nähe gesprochen habe – der Regen sollte im Lauf der Nacht aufhören. Im gleichen Augenblick beschloß Wallander, erst in der Morgendämmerung weiterzuarbeiten. Sie hatten noch nicht begonnen, einen Mörder zu jagen, sie suchten noch nach Anhaltspunkten, auf die sie sich konzentrieren konnten. Die Hunde, die hergebracht worden waren, um nach Holger Eriksson zu suchen, hatten keine Spur aufgenommen. Im Laufe des Abends waren Wallander und Nyberg auf dem Turm gewesen. Aber sie hatten nichts gefunden, was sie weiterbrachte. Wallander wandte sich an Lisa Holgersson.
»Wir kommen jetzt nicht weiter«, sagte er. »Ich schlage vor, daß wir uns morgen früh hier treffen. Am besten ruhen wir uns
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