Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was macht der Fisch in meinem Ohr

Was macht der Fisch in meinem Ohr

Titel: Was macht der Fisch in meinem Ohr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia David u Morawetz Bellos
Vom Netzwerk:
sich die tieferen Absichten und Besonderheiten eines Schriftstellers, die durch eine innere Ursache vorgegeben sein müssen.«
    Der Begriff »Stil« hat also eine sehr seltsame Geschichte. Ein Satz, 1753 zur Verteidigung literarischer Gewandtheit gesprochen, wurde weit und breit angepriesen als prägnanter Ausdruck des Gedankens, dass keine zwei Personen genau gleich sprechen oder schreiben, weil zwei Sprecher niemals dieselbe Person sind.
    Dass alle Sprecher aller Sprachen einen eigenen Idiolekt haben, ein je eigenes Reservoir von (Un-)Regelmäßigkeiten, die für keinen anderen Sprecher derselben Sprache zutrifft, ist völlig unstreitig. Warum das so ist, wird im letzten Kapitel dieses Buchs erläutert, dass es aber keine geistigen, psychologischen oder praktischen Hinderungsgründe dafür gibt, wie jemand anders zu sprechen, liegt auf der Hand – Darsteller und Imitatoren leben genau davon. Die Tatsache der individualsprachlichen Varianz hat einige äußerst praktische Anwendungen – das Aufspüren von Fälschern etwa. Zu den ersten Einsatzgebieten für Computer in den Humanwissenschaften gehörten Statistikprogramme zur Identifizierung der Autorschaft verdächtiger Dokumente. Die Programme selbst berücksichtigten konkurrierende Theorien dazu, woran »Stil« erkennbar ist: ob an typischen Mustern im individuellen Gebrauch von Verben oder Wortschatz oder anderen Redeteilen, die kein anderer fälschungssicher nachmachen konnte; oder aber am Auftreten von »seltenen Paarungen« (zwei Wörtern, die typischerweise gemeinsam vorkommen), durch die Autoren sich unterscheiden; oder aber an der Stellung allgemeinsprachlicher Wörter im Satz, die Rückschlüsse auf die Identität eines Autors erlaubt. Das letztgenannte Verfahren, »Positional stylometry« genannt, wurde von A. Q. Morton und Sidney Michaelson an der Universität von Edinburgh entwickelt. Die Ergebnisse ihrer computergestützten Stilanalysen wurden in vielen Fällen als Beweismittel vor Gericht zugelassen und zur Untermauerung wissenschaftlicher Hypothesen über die Provenienz von Teilen der hebräischen Bibel herangezogen.
    Stil in diesem individuellen Sinn kann nicht Gegenstand des Übersetzens sein. Es wäre zwecklos, wollte man im Englischen die Verteilung der Negationspartikel pas nachahmen, wie sie in französischen Originalen statistisch unregelmäßig vorkommt.
    Daraus folgt für das Übersetzen zweierlei. Wenn »Stil« etwas so Individuelles ist, dass nicht einmal ein Schriftsteller ihn vollkommen meistert (weshalb Detektive Fälschern auf die Schliche kommen), hat zwangsläufig jeder Übersetzer in seiner Zielsprache einen »Stil« dieser Art, und dann ist auch der Stil all seiner Übersetzungen eher der seine als der Stil der von ihm übersetzten Autoren. Ich frage mich oft, ob meine englischen Versionen von Perec, Kadare, Fred Vargas, Romain Gary und Hélène Berr – die erkennbar alle je ihr eigenes Französisch schreiben – unter stilistischem Gesichtspunkt nicht eigentlich nur Beispiele für Bellos sind. Manche meinen: Ja, zwangsläufig, die Stilstatistik gibt, was das betrifft, kein Pardon. Und insgeheim bin ich ganz froh, dass es so ist. Schließlich sind diese Übersetzungen mein Werk. Genau feststellen kann das freilich nur ein ausgefeiltes Computerprogramm.
    Trotzdem kann man die Frage nach dem Stil nicht einfach vom Tisch wischen. Zugegeben, wir meinen nicht Buffons »Eleganz«, wenn wir über Literatur und Übersetzung sprechen, auch wenn das Wort in Unterhaltungen über Kleidung oder Gurkenschnittchen noch fällt. Wir meinen keine statistisch nachweisbaren Regelmäßigkeiten im Vorkommen unbestimmter Artikel, außer wenn wir dankbar einen Gerichtsbeschluss akzeptieren, in dem schwarz auf weiß zu lesen ist, dass der Stil des angeblich von unserem Onkel verfassten Testaments und die behauptete Autorschaft einander ausschließen.
    Wir meinen etwas anderes, was so schwer nicht auszudrücken ist: Der Stil ist der Grund, warum ein Roman von Dickens eben Dickens und warum ein Stück von P. G. Wodehouse – selbst wenn ein anderer es verfasst hat – im Kern trotzdem ein Stück von Wodehouse ist. Stil ist, wenn nicht der Mensch, so das Ding! Er ist das, was jedes Werk einzigartig macht.
    Einen Dickens erkenne ich auch auf den ersten Blick. Aber das ist banal. Die Frage ist: Wo steckt das Dickens’sche eines Texts von Dickens? In den Wörtern? Den Sätzen? Den Absätzen? Den Abschweifungen? Den Anekdoten? Der Anlage der Figuren? Oder der

Weitere Kostenlose Bücher