Was wir unseren Kindern in der Schule antun
Note. Was wird passieren? Er wird besser. Man kann die Freude in seinen Augen sehen, und gleichzeitig den Hoffnungsschimmer, dass er das nun immer erreichen kann. Wie Kinder aufblühen, wenn man ihnen etwas zutraut, wenn sie merken, sie sind gut und können etwas â dann hängen sich auch die vermeintlich faulsten und demotiviertesten Kinder plötzlich wieder rein. Dieses Phänomen kann man beobachten, wenn Kinder auf die Real- oder Hauptschule übertreten und dort nun plötzlich zu den Einserschülern gehören. Oft bekommen sie dadurch solch einen Auftrieb, dass ihnen bald darauf sogar der Ãbertritt in eine höhere Schulart gelingt oder sie über den zweiten Bildungsweg später höhere Abschlüsse erwerben.
Derzeit ist die Probenstellung aber für viele Kinder intransparent und sie wissen oft gar nicht, was sie nun eigentlich können und was nicht. Die Kinder haben das Gefühl, alles verstanden zu haben, und für sie ist es nicht begreifbar, wenn sie dann doch eine Vier bekommen. Diese Note entspricht den Vorgaben
zur Notengebung, die Kinder haben die Anforderungen erfüllt. Aber diese Kinder resignieren, weil sie es nicht in der Hand haben, auch einmal eine Bestleistung bescheinigt zu bekommen. Da hier keine Transparenz und Klarheit vorherrschen, wurschteln sie oft mehr oder weniger vor sich hin, lernen aber nie, auf ein klar definiertes Ziel hin ausgerichtet zu arbeiten und beständig dabeizubleiben, bis dieses Ziel erreicht ist. Sie bleiben in gewisser Weise orientierungs- und planlos. Das macht sie dumpf und viele geben dabei auf. Liegt das Problem hier wirklich bei den Kindern oder doch eher darin, dass keine klaren Zielangaben formuliert sind, die für alle Kinder durch bewusstes Arbeiten erreichbar sind?
Liegt das Problem vielleicht auch darin, dass aufgrund der Leistungsbeurteilung viele Kinder, egal wie viel sie dazulernen, keine Erfolge bescheinigt bekommen? Ich erinnere mich an einen Jungen in meiner Klasse. Schon seit der Geburt lief er den anderen Kindern in der Entwicklung immer ein wenig hinterher. Hinterher wohlgemerkt, er war nicht irgendwo stehengeblieben oder konnte manches gar nicht ausbilden. Er war einfach nur mit dem meisten später dran. Das setzte sich auch in der Schule fort. Merlin war ein zurückhaltender Junge, er wusste um sein âImmer-hintendran-seinâ. Aber er lernte genauso fleiÃig: Er konnte lesen, schreiben, rechnen, durchaus auch schwierigere Aufgaben. Ohne Noten klappte das alles gut. Merlin war motiviert und sah, wie er immer mehr konnte, immer mehr dazulernte. Auch seine Mutter war zuversichtlich und unterstützte ihn beständig. Die Erfolge waren sichtbar, ein Zusammenhang zwischen Anstrengung und Erfolg erkennbar. Sobald die Arbeiten benotet wurden, kamen die Fünfer. Im Vergleich zu den anderen war Merlin einfach später dran und konnte so zu diesem Zeitpunkt die Anforderungen nicht erfüllen. Merlin war kaum wiederzuerkennen. Das ausgeglichene Kind, das sich beständig bemüht hatte, verzweifelte, die Mutter ebenso. Merlin hatte kaum mehr Freude am Lernen, musste oft zur Arbeit angehalten werden. Die Proben gab er oft ab, obgleich noch viele Aufgaben ungelöst waren. Manchmal blickte er starr und wie abwesend vor sich hin, hin und wieder wurde
er von einem Weinanfall übermannt. Zum Muttertag schrieb er in der Schule seiner Mutter einen Brief, nur diese Worte: âMama, ich bin halt so. Ich bin halt so.â Innerhalb weniger Monate hat dieses Kind aufgegeben, seine Mutter ebenso. Mit der Zeit hatte er nun tatsächlich deutliche Defizite, die sich auch immer weiter ausweiteten. Ein gemeinsames Lernen mit den anderen wurde zunehmend schwieriger â nicht weil Merlin jetzt Defizite, sondern hauptsächlich, weil er keine Motivation und keine Lust mehr hatte. Da half alles gute Zureden nichts, kein Aufzeigen der individuellen Lernfortschritte, kein Belobigungsstempel â nichts. Die Note prangte über allem: Fünf.
Ein Fünferschüler ist ein Fünferschüler, weil es Fünferschüler geben muss. Und bei einem Fünferschüler sieht man nicht mehr, dass er vielleicht lediglich ein paar Minuten mehr Zeit gebraucht hätte, um die Aufgaben zu lösen, weil er noch verträumter als die anderen ist oder gar, weil er bedächtiger und genauer arbeitet. Man sieht nicht, dass er schon zwei Wochen nach dieser verhängnisvollen Probe die Aufgaben auch verstanden
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