Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
vorlesungsfreie Zeit planen kann, die ich wieder auf Hohen- Lützow verbringen möchte. Aber vorher freue ich mich schon auf die Gesellschaft meiner Familie zu Hause.
Bis dahin verbleibe ich mit den besten Wünschen
Dein gehorsamster Sohn Johann
Und liebste Grüße an meine liebe kleine Schwester Johanna.
Franz sah auf und schaute seinen Vater an: „Das ist der letzte Brief von Johann, den du erhalten hast.“
„Ja.“
„Und du schließt aus Johanns Zeilen vom April, er hätte im Mai oder spätestens Anfang Juni erneut schreiben müssen.“
„Ja, das hat er immer getan. Er ist darin sehr gewissenhaft.“
Franz verscheuchte schnell die Gedanken an die eigene Unzuverlässigkeit. Briefliche Konversation empfand er von jeher als lästig.
„Johann hat immer darauf bestanden, dass seine Anwesenheit auf dem Gut bei Stein angemeldet wird, und weil er der Erbe ist und mit seinen Studien in Rostock befasst ist, habe ich den Briefwechsel mit Stein geführt.“
„Du meinst, wenn er nach Hohen-Lützow gewollt hätte, dann hätte er zwangsläufig an dich schreiben müssen.“
„Ja.“
„Hast du dir schon einmal überlegt, ob Johanns Brief auf dem Postweg abhanden gekommen sein könnte?“
„O ja, viele Wochen habe ich mich damit getröstet. Mein Brief an Johann blieb jedoch unbeantwortet. Dann ließ es mir keine Ruhe mehr und ich habe an den Rektor der Universität geschrieben. Das Antwortschreiben des Herrn Professor Konopack liegt auch in der Mappe.“ Der Graf deutete mit einem Kopfnicken auf die Papiere, die Franz auf seinen Knien balancierte.
Er fand den Brief und benötigte einige Zeit, die unleserliche Handschrift des Gelehrten zu entziffern. Erschrocken sah er auf.
„Wann beginnt in der Regel die Prüfungszeit?“, fragte er.
„Mitte Juni, jedenfalls war es im letzten Jahr so. Ich habe Johanns alte Briefe diesbezüglich gesichtet.“
„Dann dürfte Johann mindestens seit Mitte Juni ...“ Franz brach ab, es widerstrebte ihm die beiden Worte – verschwunden sein – auszusprechen. „Seit Mitte Juni nicht mehr die Universität besuchen.“ Er warf die bekannten Fakten gedanklich hin und her und stellte eigene Vermutungen an. „Stein hat keinen Brief von Johann erhalten, was wir seit heute Abend wissen.“
Der Graf verfolgte die Zusammenfassung seines Sohnes interessiert und ihm fiel dabei das Abendessen wieder ein. „Franz, was meinte Stein, als er sagte: ‚mit besonderer Empfehlung Ihres Herrn Sohnes‘, ich dachte ...“, seine Stimme erstarb.
„Stein meinte, dein Sohn Franz habe den Braten erlegt, nicht mehr und nicht weniger.“ Franz hatte die Antwort ohne Überlegung hervorgepresst. Die alte Eifersucht auf den Bruder im Wetteifer um die Liebe des Vaters versuchte hervorzubrechen. Er schämte sich sofort des Gefühls.
„Franz, bitte.“ Die Stimme des Vaters flehte.
„Entschuldige, Vater. Wir haben bisher noch keine Zeit gefunden über uns zu sprechen, wie es dir, Johanna und Johann in den letzten Jahren ergangen ist. Und wir haben auch nicht über mich gesprochen.“
„Es tut mir sehr leid, Franz, dass der unglückselige Umstand unser Wiedersehen überschattet.“
Franz ergriff die Hand des Vaters, bevor er sagte: „Du meinst, der unglückselige Umstand hat unser Wiedersehen erst erforderlich gemacht.“ Er quälte sich selbst mit der Feststellung.
„Ja, du hast recht und ich schäme mich dafür.“
„Ich habe ebenso großen Anteil an der Situation, Vater.“ Bedrückt sah Franz auf die blanken Dielen. Er machte sich bittere Vorwürfe. Die letzten Zeilen an seinen Vater stammten noch aus Paris, geschrieben auf dem Krankenlager. Sorgsam hatte er darin jeden Hinweis auf seine schwere Verletzung vermieden. Er hätte während der Zeit seiner Genesung genügend Gelegenheit gehabt, die Familie in Ludwigslust zu besuchen, aber seine Eitelkeit hatte ihn zurück nach Berlin getrieben.
Der Graf lächelte seinen Sohn an, der vor sich hin starrte. „Johanna ist jetzt 16 Jahre alt. Du wirst staunen, wenn du sie wiedersiehst.“
Franz nickte und lächelte ebenfalls, dann hastete er über die Brücke, die sein Vater ihm gebaut hatte. „Sie ist gewiss eine richtige Dame geworden und hoffentlich nicht mehr so zickig wie früher“, unterstellte er. Er versuchte, sich ein Bild von ihr zu machen. Mit Wehmut dachte er an die wenigen Jahre der gemeinsam verbrachten Kindheit, auch an die kleinen Zwistigkeiten unter Geschwistern. Sorgsam gehütete Erinnerungen an seine Mutter
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