Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
stiegen auf. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie sehr er seine Familie vermisst hatte. Nun konnte er sich auch das eigenartige Gefühl erklären, das ihn seit seiner Ankunft auf dem Gut nicht mehr losgelassen hatte.
Er war zu Hause. Hier hatten seine Vorfahren gelebt. Hier – auf Hohen-Lützow – würde er immer willkommen sein.
Der Graf rührte sich. Franz war sofort zur Stelle und stapelte die Kopfkissen auf, damit der Vater es bequemer habe.
„Möchtest du etwas trinken?“, fragte er fürsorglich. Der Leibdiener hatte wohl wissend ein Tablett mit Wasser und Tee, der inzwischen kalt geworden war, bereitgestellt.
„Nein, eher das Gegenteil“, gab der Graf zurück.
Franz begriff nicht gleich, doch dann fiel der Groschen. „Oh, du meinst das Nachtgeschirr.“ Er stand auf und wollte seinem Vater den emaillierten Henkeltopf bringen.
Der Graf schüttelte den Kopf. „Lass nur, ich bin nicht krank. Ich schaff das schon allein. Du müsstest mir nur kurz beim Aufstehen behilflich sein.“ Er setzte sich auf und streckte eine Hand nach seinem Sohn aus.
Besorgt verfolgte Franz die Schritte des alten Mannes. Doch der wankte nicht und machte auch sonst nicht den Eindruck, gleich vor Erschöpfung umzufallen. Er verschwand hinter dem Wandschirm und erleichterte sich unter charakteristischen Geräuschen. Franz wurde verlegen. Seine Ohren wurden heiß und er wusste, sie färbten sich gerade feuerrot. Er konnte sich nicht erinnern, bei einer so intimen Verrichtung seines Vaters jemals anwesend gewesen zu sein.
„Nun bin ich schon so alt geworden und wir haben niemals gemeinsam gepinkelt“, bemerkte der Graf schlicht, aber passend.
Franz konnte nicht anders, er lachte schallend und sein Vater stimmte mit ein. Das gemeinsame Gelächter wirkte wie eine Befreiung. Beide gingen danach unbefangener miteinander um. Johann und die Familienvergangenheit schwebten nicht länger als Gespenster umher, vor denen Vater und Sohn sich scheuten zu sprechen.
Als der Graf wieder im Bett Platz genommen hatte, nistete immer noch ein vages Lächeln in Franz’ Mundwinkeln.
„Vater, ich weiß so verdammt wenig über meinen erwachsenen Bruder. Hat er eine Braut?“, fragte er, obwohl anzunehmen war, zu Johanns Verlobung wäre er eingeladen worden. Johann war älter als Franz und eine gute Partie. Viele Mütter wohlerzogener Töchter hätten den Erben des Grafen bestimmt gern zum Schwiegersohn gehabt.
„Nein. Bisher hat er mir kein Mädchen vorgestellt und an eine Verlobungsfeier erinnere ich mich auch nicht“, scherzte der Graf.
„Hältst du es für möglich? Könnte Johann in diesem Jahr die große Liebe über den Weg gelaufen sein?“ Franz beobachtete seinen Vater genau.
„Du meinst, er sei durchgebrannt?“
„Zum Beispiel.“
„Aber dafür gäbe es doch überhaupt keinen Grund.“ Der Graf lehnte sich zurück und machte mit der Hand eine hilflose Geste.
„Und wenn das Mädchen nicht standesgemäß wäre?“, bohrte Franz weiter.
„Ja, du hast recht!“ Ruckartig setzte sich der Graf auf. „Das wäre eine Möglichkeit. Er will mich vielleicht vor vollendete Tatsachen stellen.“
„Daran habe ich auch gedacht. Vielleicht ist es ein nicht gerade vermögendes Mädchen.“ Seine Wendung für „arm“ fand Franz durchaus passend. Er beließ es aber nicht bei der Überlegung, sondern spann den Faden weiter. „Nehmen wir einfach an, Johann ist unvorsichtig gewesen!“
Der Graf wurde weiß wie das Bettzeug.
„O mein Gott, was für ein Skandal!“, entschlüpfte ihm. Dann schlug er sich eine Hand vor den Mund. „Was rede ich da nur?“ Über sich selbst entsetzt, starrte er seinen Sohn an. Schnell, um die eigenen Worte vergessen zu machen, fügte er hinzu: „Nein! Nein! Egal, was immer er auch angestellt haben mag, es soll ihm nur gut gehen. Ich möchte nur wissen, ob es ihm gut geht.“ Der Schmerz kehrte in seine Züge zurück.
„Vater, ich möchte dir einen Vorschlag machen.“ Franz stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. „Ich habe noch drei Wochen Urlaub, die werde ich nutzen. Gleich morgen fahre ich nach Rostock und beginne damit, nach Johann zu suchen. Was hältst du davon?“ Im Verlauf des Gespräches war es Franz zur Gewissheit geworden, sein Vater habe vorgehabt, ihn eben darum zu bitten. Nun war er der Bitte zuvorgekommen. Endlich konnte er etwas zurückgeben.
Der Graf lächelte.
„Du bist ein guter Junge, Franz. Komm her, lass dich umarmen.“
Sie verharrten eine Weile in der Umarmung,
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