Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
Aufmerksamkeit der anderen Gäste.
„Weihnachten desselben Jahres stoßen wir an der litauischen Grenze auf eine russische Armee. Unser König war zu dieser Zeit noch per Vertrag an Napoleon gebunden, also war die Truppe unser Feind. Aber was soll ich Ihnen sagen, statt sofort ein Scharmützel vom Zaun zu brechen und uns die Kugeln um die Ohren fliegen zu lassen, beginnen unsere Befehlshaber ein freudiges Wiedersehensfest!“
Die Männer am Tisch raunten sich Vermutungen zu. Franz wurde sofort aufgefordert, er solle die Angelegenheit verklaren.
„Nun, damals war ich in zu unbedeutendem Rang, auch zu jung gewesen, um die Ereignisse richtig bewerten zu können. Aber heute, mit dem Abstand der Jahre und der eigenen Sichtweise auf die Dinge, weiß ich, dort haben sich Männer getroffen, die auf den Lauf der Geschichte Einfluss ausgeübt haben!“
Ahrens wurde ungeduldig. „Sprechen Sie nicht in Rätseln, was meinen Sie damit?“
Franz stützte sich auf seine Ellenbogen und lehnte sich in den Lichtkegel der Lampe. „Preußen, und damit auch Berlin, hat noch unter französischer Fremdherrschaft gestanden, egal, ob die kaiserliche Armee im Winter auseinandergefallen ist oder nicht.
Die russische Einheit ist von General Graf Diebitsch angeführt worden, der aus Schlesien stammt. Weiterhin hat sich Generalinspekteur Freiherr vom Stein, der auf Drängen der Franzosen von seinem vormaligen Ministerposten entbunden worden ist, bei der Truppe aufgehalten. Dort stoßen also zwei Männer preußischer Herkunft und Gesinnung auf einen alten Freund: den heutigen Grafen Yorck von Wartenburg. Und so wahr ich hier sitze, noch vor Jahresende entbindet unser Befehlshaber uns des Eides gegen den König und unserer Pflicht gegen Napoleon.“
„Ah, dann ist der Graf übergelaufen zu den Russen und hat es jedem Soldaten freigestellt, für sich selbst zu entscheiden.
Das war es also!“
„Ja. Aber Yorck hat unseren König nicht im Ungewissen gelassen. Er hat sofort einen Kurier nach Berlin beordert und Seiner Majestät ordnungsgemäß den Hochverrat gemeldet.“
„Ha, wie man es von den alten Preußen gewohnt ist, immer schön Ordnung halten und alles der Obrigkeit melden, auch wenn es um den eigenen Hals geht.“ Die Zuhörer lachten über die spöttische Bemerkung aus der Tischrunde.
„Und? Wie hat der Preußenkönig darauf reagiert?“
„Nun, das kann ich freilich nicht wissen. Später habe ich erfahren, Yorck sei als Oberbefehlshaber des Hilfskorps enthoben worden. Da er aber kein Entlassungsschreiben erhalten hat, hat Yorck seine angebliche Enthebung nicht zur Kenntnis genommen. Bei der Truppe kursierten einige Zeit Gerüchte über eine Veröffentlichung in einer Zeitung, in der von der Enthebung berichtet worden ist.“
„Weiter ist nichts passiert?“
„Denk doch mal nach, Jochen, wann kam der Aufruf des Preußenkönigs zur Erhebung gegen den Franzosenkaiser?“
Der Angesprochene sog paffend an seiner Pfeife und zog die Mundwinkel herunter, dann traf ihn die Erleuchtung: „Du hast recht, Mann, das war im März, genau nach diesem gottverdammten Winter, von dem hier die ganze Zeit die Rede gewesen ist“, rief er aus.
„Ja, der Tettenborn war doch mit seinen Russen längst in Ludwigslust. Hat sich zum Kaffeetrinken bei unserm Herzog eingeladen!“
Aufgeregtes Geplapper folgte. Jeder am Tisch wollte zuerst zum Besten geben, wann und wie er die Nachricht erhalten und was sich in seinem unmittelbaren Umfeld ereignet hatte. Franz war erstaunt über die plötzliche Lebendigkeit und Erzählfreude seiner Tischnachbarn, die doch bisher so wortkarg und kritisch seinen Ausführungen gefolgt waren. Einer der Gäste spendierte für den Tisch eine Runde Bier, dann krähte er los:
„Die wilde Jagd und die deutsche Jagd
Auf Henkersblut und Tyrannen ...“ Wie auf Kommando fiel ein vielstimmiger, alkoholbeseelter Männerchor ein, der durch die gesamte Gaststube dröhnte.
„Drum, die ihr uns liebt, nicht geweint und geklagt!
Das Land ist ja frei, und der Morgen tagt,
Wenn wir’s auch nur sterbend gewannen.
Und von Enkeln zu Enkeln sei’s nachgesagt:
Das war Lützows wilde, verwegene Jagd.“
„Ein dreifaches Hurra auf unseren Helden Theodor Körner!“, schrie jemand durch den Tumult, der sich anschloss. Begeistert wurden gefüllte Bierkrüge hochgerissen, Männer sprangen auf, Stühle fielen um und keiner, außer der initiierenden Tischrunde, wusste so recht, was mit einem Male los war. Patriotische Begeisterung
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