WELTEN-NEBEL
jungen Frau nicht gefährden. Auch Mawen wirkte bei seinem Besuch, als habe er eine Ruhepause bitter nötig.
Es gab jedoch noch einen weiteren Grund für ihre Verzögerungstaktik. Jetzt, da sie einer Lösung des Rätsels um die Inschrift so nah wie nie zuvor waren, beschlich Yerina das Gefühl, dass eine Aufdeckung des Geheimnisses weitreichende Konsequenzen hätte und dass Zada und Mawen irgendwie darin verwickelt würden. Daher sorgte sie sich um die beiden. Zada war ihr fast wie eine eigene Tochter und Mawen war das Kind ihrer besten Freunde.
Es war Abend geworden und Yerina war allein im Tempel zurückgeblieben. Sie kniete nieder und versenkte sich ins Gebet, wie sie es schon so oft in ihrem Leben getan hatte. Heute erhoffte sie sich davon auch Klarheit in ihren Gedanken. Bevor sie weitere Schritte unternahm, wollte sie sicher sein, das Richtige zu tun. Ihre Gedanken wanderten zurück zum Anfang, als Zadas Berührung die Schriftzeichen auf dem Heiligen Würfel erscheinen ließ. 'Nein', dachte sie, 'dies war nicht der Beginn, wahrscheinlich hat es schon begonnen, als Zada damals plötzlich auftauchte, am Tag der Wintersonnenwende vor über zwölf Jahren.' Im Stillen bat Yerina die Götter um ein Zeichen, um einen Hinweis, was dies alles zu bedeuten hatte. Nicht zum ersten Mal bedauerte sie, dass in den Wirren des Jahres 3600 die Schwesternschaft der Seherin sowie auch sämtliche Aufzeichnungen ihrer Prophezeiungen vollständig vernichtet worden waren. Die Seherinnen waren in schicksalsträchtigen Situationen stets wichtige Ratgeber gewesen. Nun aber war es die Oberpriesterin, die man stets um Rat ersuchte. Bisweilen lastete die Verantwortung des Amtes schwer auf Yerina. Sie erhob sich und strich ihr Gewand glatt. Obwohl der Abend schon fortgeschritten war, entschloss sie sich, Tharet aufzusuchen. Sie brauchte einen Freund, mit dem sie sich beraten konnte.
Tharet hatte Yerina schon einige Tage nicht mehr gesehen. Daher freute er sich, trotz der späten Stunde, über ihren Besuch. Nach einer herzlichen Umarmung zur Begrüßung schob er sie eine Armeslänge von sich und betrachtete sie im Schein der Lampe. Ihr Blick wirkte müde und angespannt. „Du hast Sorgen.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Es führte sie ins Wohnzimmer und drückte sie in einen der Sessel.
Galica kam ins Zimmer, um den späten Gast zu begrüßen, brachte dann eine Flasche Wein sowie zwei Gläser, bevor sie sich zurückzog. Tharet war seiner Frau dankbar, dass sie wie immer das richtige Gespür für die Situation besaß und keine Fragen stellte.
Tharet schenkte Wein in die Gläser und reichte Yerina eines. Eine Weile saßen sie schweigend da. Dann begann Yerina zu erzählen: von der Schrift auf dem Heiligen Würfel; den beiden Gelehrten, die der Enträtselung näher kamen; von Zadas Rolle dabei; von ihren diffusen Vorahnungen. Tharet ließ sie zunächst reden. Vieles von dem, was sie berichtete, wusste er bereits aus vorangegangenen Unterhaltungen mit ihr oder aus Gesprächen mit seiner Tochter. Auch hatte er sich schon in seiner Funktion als Vorsitzender des Regierungsrats mit den Zeichen auf dem Heiligen Würfel beschäftigen müssen. Obgleich die Sache als Angelegenheit des Tempels eingestuft worden war, so hatte sie doch für einige Aufregung in der Bevölkerung gesorgt. Daher musste sich der Regierungsrat eine Meinung dazu bilden und eine Erklärung abgeben. Nach inzwischen mehr als vier Monden war das Interesse der Bevölkerung zwar abgeflaut, aber dennoch hatte er die Geschehnisse weiter im Auge behalten.
Als Yerina geendet hatte, hatten sich ihre Züge bereits etwas entspannt, wahrscheinlich hatte sie einfach jemanden gebraucht, mit dem sie reden konnte. Tharet wusste, dass sie sich im Tempel niemandem anvertrauen konnte und wollte; die anderen Priesterinnen erwarteten von ihr Führung und Leitung, für ihre Ängste und Bedenken war dort kein Platz.
Er fragte sie: „Was willst du nun weiter unternehmen?“
„ Ich weiß es nicht. Ich habe die Götter um Antworten gebeten. Die Zeichen sind sicher nicht ohne Grund erschienen, die Götter wollen uns etwas mitteilen. Aber ich fürchte, wir sind nicht in der Lage, sie zu verstehen. Selbst nun, da die Zeichen in Lautsprache umgewandelt sind, haben wir noch immer niemanden, der sie versteht. Mawen ist klug, aber ohne einen Anhaltspunkt wird auch er den Sinn nicht entziffern können. Zada ist offensichtlich die Einzige, die die Sprache spricht, aber sie
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