Wendland & Adrian 03 - Nachtauge
an ihren Feinden.« Nach kurzem Schweigen fügte sie hinzu: »Wenn du mich als die Diplombiologin fragst, die ich ja auch bin, würde ich natürlich sagen, so was ist unmöglich und schwärzester Aberglaube. Aber das schulwissenschaftliche Zeug, dass sie uns im Studium eingetrichtert haben, erscheint mir immer mehr wie eine winzige Insel in einem riesigen Ozean voller ungelöster Rätsel und Geheimnisse. Wir bilden uns auf unsere Wissenschaftlichkeit so viel ein, aber in Wahrheit wissen wir doch lächerlich wenig.«
Während ihres Studiums hatte Chris an mehreren Forschungsprojekten über Wölfe mitgearbeitet und zu diesem Thema auch ihre Diplomarbeit geschrieben. Darüber sprach sie aber fast nie. Susanne hatte den Eindruck, dass Chris mit ihrer wissenschaftlichen Karriere, in die sie ja einmal viel Energie investiert hatte, innerlich vollkommen gebrochen hatte.
Chris breitete das abgetrennte Fell mit der Haut nach oben auf dem Boden aus. »Öffne mal deinen Rucksack und nimm die Plastikbeutel heraus, die du darin findest.« Sie machte sich daran, das Fleisch des Keilers zu zerlegen, wobei sie seine Haut als Arbeitsunterlage benutzte. »Gut. Da packen wir das Fleisch rein.«
»Rache«, sagte Susanne leise. »Rache als Motiv – mit einem Jaguar als Waffe? Klingt verrückt.«
Chris hielt ein großes Stück Wildschweinfleisch in ihren Gummihandschuh-Händen und grinste. »Was ist in dieser Welt schon normal? So, halt mal ’nen Beutel auf.«
Susanne konnte sich noch nicht recht vorstellen, wie aus dem blutigen Gebilde in dem Beutel ein leckerer Schweinebraten werden sollte. »Fragt sich nur, wer sich an wem rächen will und wofür.«
»Rache ist ein dummes Motiv, aber leider kein seltenes«, meinte Chris. Inzwischen hatte die Sonne längst den Morgendunst vertrieben und es war warm geworden. Chris hatte von der anstrengenden Arbeit rote Backen bekommen und war schweißüberströmt.
Schließlich war alles Fleisch zerteilt und in Beutel verpackt. »Wir werden zweimal zum Landy gehen müssen, bei dieser Menge«, sagte sie. Sie packten ihre Rucksäcke voll und legten die übrigen Beutel in den Schatten. Dann schleppte Chris die knochigen Überreste und die Innereien an den Rand der Lichtung. »Als Gabe für die wilden Tiere«, sagte sie lächelnd. »In der Natur wird alles verwertet. Da gibt’s keinen Sondermüll, der in irgendwelchen Deponien einbetoniert werden muss.«
»Was wird mit dem Fell?«, fragte Susanne.
Chris, die ihre Gummihandschuhe ausgezogen und die blutige Schürze abgenommen hatte, wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Sie zwinkerte Susanne zu. »Kannst dir ja einen Mantel daraus machen. Damit würdest du im Präsidium garantiert mächtig auffallen.«
Susanne lachte. »Womöglich noch mit dem Schwanz und den Ohren dran? Wahrscheinlich darf ich ihn dann gleich wieder ausziehen und sie stecken mich stattdessen in eine Zwangsjacke!«
»Die haben eben kein Traditionsbewusstsein. Bei den alten Germaninnen war so was ultraschick. Besonders elegant mit Keule und Kurzschwert.«
Susanne überlegte, dass Chris sicherlich eine eindrucksvolle Walküre abgegeben hätte, verkniff sich aber diesbezügliche Anspielungen.
»Nein. Ich hab’s den Leuten vom Demeterhof versprochen. Die möchten es sich vor den Kamin legen. Aber ansonsten könnte man die Haut natürlich auch weiterverarbeiten. Sie ergibt ein ausgezeichnetes Leder.«
Sie mussten tatsächlich zweimal zum Landcruiser laufen und es war eine ziemliche Schlepperei. Als sie endlich die gesamte Ausbeute im Geländewagen verstaut hatten, klopfte Chris sich zufrieden auf den runden Bauch. »So! Jetzt können wir’s aufessen. Natürlich nicht alles. Einen Teil bringe ich den Asylbewerberfamilien in Buchfeld mit ihren vielen Kindern. Die freuen sich immer riesig.« Sie legte Susanne den Arm auf die Schulter. »Und dir geb ich natürlich auch eine gute Portion mit. Ich denke, die hast du dir verdient, nachdem du so um mich gezittert hast.«
Ein bislang recht zäher Montagmorgen, fand Tönsdorf und schaute dem einsamen Baum auf dem grauen Parkplatz des Kölner Polizeipräsidiums beim Wachsen zu. Früher hatte eine Whiskyflasche im unteren Schreibtischschubfach gestanden, mit der er sich über solche zähen Momente hinweggeholfen hatte, aber seit seiner Entziehungskur war dieser Fluchtweg tabu. Die einzigen Süchte, die ihm geblieben waren, das Rauchen und das Essen, vermochten den Alkohol nicht wirklich zu ersetzen. Wäre Susanne
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