Wenn das der Führer wüßte
nach Berlin kommen würden, und ich frage Sie nicht, woher Sie die Schramme und das schöne Auge haben. Einverstanden?“
Mechanisch auf ihr konventionelles Geplapper antwortend, beobachtete er sie unaufhörlich, als er zwei vegetarische Platten und Fruchtsäfte bestellte. Anselma war feinknochig, ihr Teint blaß, fleckig und durchscheinend, so als sei die Haut um eine Nuance zu hell und zu glänzend um die Gelenke gespannt. Nervöse, elegante Gesten. Eine niedrige, intelligente Stirn. Merkwürdig, das Gesicht sah im Profil anders aus als von vorn: Anselma war doppelgesichtig, wie die Schlange doppelzüngig ist. Ihre Stimme hatte einen weichen, sinnlichen Klang, jedoch nicht warm-sinnlich, sondern kalt, sogar glasig kalt. Es war unvorstellbar, daß die Stimme auch laut sein könnte. Diese Frau wirkte kindhaft, unentwickelt, zugleich aber ältlich (der zart verknitterte Mund!); sie mochte jünger als Ulla sein, war aber schon merkbar im Verblühen. Und dieses Verblühen verbarg sie nicht; im Gegenteil: sie unterstrich es durch ihr Parfüm, durch manche gleichsam unabsichtliche Hinweise in der Kleidung.
Anselmas Augen! Es waren jedoch nicht die Augen, wie er feststellte, die einen gefangennahmen. Die Iris war braungrün gesprenkelt, ein stechender, saugender Glanz ging von den Pupillen aus. Was einen sofort und hauptsächlich fesselte, war der starre, durchdringende, wissende, „alte“ Blick. In dem schmalen Gesicht mit den leicht welkenden Wangen erschienen die Augen übergroß.
Sie sprachen über alles mögliche, während sie aßen. Beide waren sie Anhänger der Deutschen Naturheilkunde, deren Ahnherr Bilz in Radebeul war. Im Zusammenhang mit der dortigen Naturärztetagung, bei der sie einander kennengelernt hatten, kam Anselma kurz auf ihre Schwägerin zu sprechen; sie schien nicht sonderlich gut mit ihr zu stehen.
„Ulla ist eine aufgenordete Fassadenschönheit, dabei mehr Slawin als Germanin. Sie ist ungeheuer vital, ich-besessen, wußten Sie das? Ob Erik mit ihr glücklich ist? Ich ahne es nicht. Mein Bruder ist sehr verschlossen, geht ganz in der Politik auf …“
Sie lenkte schnell von dem familiären Thema ab, wobei sie Höllriegl einen Moment lang mißtrauisch anblinzelte. Für die „Pendlerei“ zeigte sie sich interessiert, wie schon damals in Radebeul. Er müsse auch zu ihr pendeln kommen. Komisch, unmerklich glitten sie in ein neckisches, sogar zweideutiges Wortgeplänkel hinein. Es war, als entkleideten sie sich voreinander – in allen Ehren natürlich („Nudistenparadies“). Höllriegl prunkte unvermittelt und eher dämlich mit seinem mythologischen Wissen, rezitierte Verse aus der Wälsungensage, aus „Helgakvidha Hundingsbana“ („In uralten Tagen, als Adler sungen …“) und dem „Sigrdrîfumâl“. Dann ging er zum frontalen Angriff über.
„Sie haben doch sicher einen reizenden asischen Ehrennamen“, sagte er augenzwinkernd. Und anzüglich setzte er hinzu: „Oder einen erotischen?“
Er musterte sie dreist, zu dreist, wie ihm vorkam, weshalb er seine Blicke schnell neutralisierte.
„Ich heiße Kostbera, aber ich würde lieber Knefrôdh, die Kniefertige, heißen.“ Ihr Blick glitt über seine Schultern, hatte etwas Demütiges und zugleich Unkeusches. Sie sah ihm von unten starr in die Augen. Er erwiderte den Blick – niemand senkte die Augen. Es entstand eine Pause, die der Engel des Schweigens, eines höchst unheiligen Schweigens, langsam durchschritt.
„Sie sind eine Kostbare, der Name paßt. Noch besser wäre Hyrr, die Flamme, oder Ridhill oder Svâsudhr, Süßesud“, sagte er, weiter mythologisches Süßholz raspelnd. „Und mich gelüstet es nach Ihrem Sevafiôll. Für mich sind Sie Sinfiôtli, Sinfessel, die Sinnenfessel.“
„Sie verwechseln alles, werfen alles durcheinander.“ Anselmas Spott war sanft und wohlklingend. „Ridhill ist Schwirrl, Reginns Schwert, also – pfui – etwas Sächliches. Ich kann doch nur die Scheide sein. Und Sinfessel ist ein Mann, Siegmunds Sohn und Enkelsohn des Wälsung aus dem ‚Sinfiôtlalok’ – Sie wissen, das ist jenes verlorengegangene Heldenlied, das Herms Niel in der blödesten Weise veropert hat …“ Und plötzlich sang sie mit weicher Stimme: „Sohn, laß den Bart es seîhen.“
Sie hatte die eddischen Lieder sehr gut intus. Dagegen war er ein Waisenknabe.
„Trotzdem: Ich nenne Sie Sinnenfessel.“
Ein wohliger Schauer durchrieselte ihn, es prickelte in den Adern wie Schaumwein. Anselma war eine Zauberische,
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