Wenn das Herz im Kopf schlägt
Fehdehandschuh, liegt immer noch in seinem Magen und bereitet ihm leichten Schwindel. Er lehnt sich zurück und starrt in die Dunkelheit. Augenblicklich fällt Müdigkeit ihn an. Müdigkeit, die nicht nach Schlaf verlangt, sondern nach Vergessen.
Brigitte, Lena Koberg, Jansen, Mahler, Holter! Alle fallen in losen Gedanken und Bildern durcheinander, und er hat nicht die Kraft sich zu wehren. Er schließt die Augen, atmet tief ein und steigt aus dem Wagen.
In der Küche schaltet er kein Licht an. Im Widerschein der Straßenlaterne sieht er Befunde, kleine Röntgenbilder und Brigittes Krankenkassenkarte auf dem Küchentisch liegen. Papier und Kunststoff! Ganz harmlos und selbstverständlich liegt es da, so als hätte es schon immer da gelegen. So als wäre ihr Küchentisch der einzig richtige Ort.
Im Wohnzimmer schaltet er die Stehlampe ein, nimmt sich einen doppelten Glenfiddich und setzt sich auf das Sofa.
Es war wieder passiert! Brigitte hatte Recht. Als Andreas gestorben war, hatten sie einen neuen Anfang versucht. Sie wollten Zeit füreinander haben, hatten doch verstanden, dass die Zeit dahingeht wie ein Windhauch durch feines Geäst. Aber dann war der Schmerz um Andreas blasser geworden, und der Gedanke an die eigene, verbleibende Zeit hatte sich in betrügerische Weite gezogen. Die Menschen und Dinge um sie herum waren wieder selbstverständlich, und er hatte an allem vorbei in die Ferne gesehen, zu einem Horizont, der vielleicht gar nicht seiner war. Er plante mit einer Zukunft, von der er nicht wusste, ob er sie haben würde.
Nur das morgendliche Laufen hat er herübergerettet. Nur wenn er mit sich und dem frühen Tag allein ist, kann er sein Leben spüren. Das ist seine Art der Flucht.
Er nippt an dem Whisky. Die Flüssigkeit brennt in der Kehle und legt sich warm und beruhigend in den Magen.
Und dann hat er heute diese andere Art der Flucht gesehen. Die Flucht zurück. Das Leben in den Bildern der Vergangenheit.
Mahler, der seine Schuld wie ein Wäschestück auf links gezogen hat. Die Opfer waren die Täter, und diese Wahrheit galt es zu hüten. Und Ruth Holter! Ruth Holter, die gesehen und dann schnell weggesehen hat. Die gehört und dann schnell weggehört hat. Dem Geschäft zuliebe. Sie stehen mit dem Rücken zum Heute, sind Hüter ihrer zurechtgerückten Geschichte.
Und dann ist da noch Lena. Lena, die offensichtlich in Bildern lebt, die so weit in der Vergangenheit liegen, dass sie ihr Leben überhaupt nicht hätten berühren dürfen.
Er hört, wie die Haustür ins Schloss fällt.
»Peter?«
»Ich bin hier!«
Sie setzt sich neben ihn auf die Lehne des Sofas, greift nach seinem Glas und riecht daran. »Ich möchte auch einen.« Sie geht zum Schrank. »Im Radio sagen sie, ihr habt den Täter.«
Seine Stimme ist ohne Kraft. »Die Täterin. Eine junge Frau von zweiundzwanzig Jahren.«
Sie setzt sich zu ihm, zieht ihre Schuhe aus, hebt die Beine auf die Sitzfläche und legt ihren Kopf in seinen Schoß. »Das klingt nicht gut.«
»Nein, das ist auch nicht gut.« Er streichelt ihr Gesicht. »Brigitte, ich spreche morgen mit Liefers. Ich werde mich für die nächsten sechs Monate beurlauben lassen.«
»Bist du sicher, dass du das willst? Ich meine, vielleicht kannst du so eine Art Halbtagsjob machen. Du warst doch nie ohne Arbeit. Was, wenn dir nach einem Monat die Decke auf den Kopf fällt? Ich will nicht, dass du dein Leben für mich aufgibst. Darum geht es nicht!« Sie fährt mit der Hand über seinen kahlen Kopf.
Schweigen füllt den Raum und bringt ihre alte Vertrautheit mit, wie ein Geschenk, das man nicht erwartet. Mehrere Minuten lang treibt jeder mit seinen Gedanken durch die Stille.
»Ich gebe nichts auf, Brigitte. Ich will Abstand. Ich mag meine Arbeit, aber an Tagen wie heute ist Recht auch Unrecht. Einen Täter zu stellen, heißt eine Arbeit zu Ende bringen. Das sollte ein Gefühl der Zufriedenheit hinterlassen, aber ich kann es nicht empfinden.« Er umfasst ihre Schultern und drückt sie an seine Brust. »Du bist mir das Wichtigste. Wir stehen das gemeinsam durch, und wenn du gesund bist, lass uns danach verreisen.«
»Peter, es kann sein, dass ich nicht gesund werde!«
Er nickt. »Ich weiß! Aber so kann ich nicht denken!«
Donnerstag, 15. März 2001
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Gesprächsnotiz Joop van Oss
Ort: Kölner Marienklinikum
Anwesend: Anna Behrens, Margarete Lech, geborene Behrens, Joop van Oss.
Margarete Lech gibt zu Protokoll, dass Anna 1967 nicht gesprochen habe. Sie war in
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