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Wenn es Nacht wird in Miami

Wenn es Nacht wird in Miami

Titel: Wenn es Nacht wird in Miami Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: EMILIE ROSE
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gab er die Richtung vor – sowohl was den Jungen als auch was das Kincaid-Erbe anging.
    Rhett, der sein Frühstück inzwischen beendet hatte, zeigte derweil reges Interesse an Mitch. Er patschte mit beiden Händchen auf das Tablett, das vor ihm auf dem Hochstuhl angebracht war, und zeigte auf ihn. „Da! Da!“, rief er aufgeregt.
    Carly beugte sich zu ihm. „Ja, das ist Mitch, dein Bruuuder.“
    „Buba! Buba!“ Rhett war begeistert.
    „Genau, dein Buba“, pflichtete Carly ihm bei.
    Mitch, dem fast der Bissen von der Gabel gefallen wäre, öffnete den Mund, um zu protestieren, schwieg aber lieber, als er das schadenfrohe Lächeln von Carly bemerkte. Hatte er es in Mrs. Duncans Mundwinkeln auch zucken sehen? Er nahm die Zeitung und zog sich hinter den Wirtschaftsteil zurück.
    Mitch dachte nicht daran, sich sein Leben von Carly und ihrem Anhang durcheinanderbringen zu lassen. Er gab ihr ein paar Wochen, einen Monat höchstens, bis sie selbst einsah, dass ihr Plan, hier die Stellung zu halten und das Sorgerecht des Jungen gegen ihn zu behaupten, zum Scheitern verurteilt war. Dann würde sich eine Nanny um Rhett kümmern, Carly würde ausziehen, und in Kincaid Manor würde endlich wieder Friede einkehren.
    Carly hatte Mitch nicht hereinkommen hören. Trotzdem wusste sie, ohne sich umzudrehen, dass er hinter ihr im Wohnzimmer stand. Sie hatte anscheinend eine besondere Antenne für ihn.
    Es war schon nach zehn Uhr. Die Anzugjacke trug er über dem Arm, der Hemdkragen war offen und die Krawatte gelockert. Carly hatte sich ein wenig im Haus umgesehen. Sie mochte diesen großen Raum sehr, lieber als die etwas düstere Bibliothek nebenan. Der großzügige Salon war überwiegend in Weiß gehalten, wirkte aber durch die Teppiche und die schweren Möbel dennoch nicht kalt. Als Mitch hereinkam, sah sie sich gerade das große Ölgemälde über dem Kamin an, das die Familie Kincaid darstellte.
    „Sind Sie das da links in der Mitte?“, fragte sie Mitch. „Wie alt waren Sie damals?“
    „Elf.“
    „Alle sehen so glücklich aus, das Musterbild einer wohlhabenden amerikanischen Familie.“
    „Manchmal trügt der Schein“, antwortete er vieldeutig.
    Erst jetzt drehte sich Carly zu ihm um. Er sah abgekämpft aus. Nicht verwunderlich, denn er hatte vor vierzehn Stunden das Haus verlassen. Und das an einem Sonntag. Carly hatte jedoch das Gefühl, dass es noch einen anderen Grund für seine finstere Miene gab.
    „Was meinen Sie damit?“, hakte sie nach.
    „Nichts. Haben Sie und Rhett sich ein wenig eingelebt?“
    „Oh ja. Mrs. Duncan und ich haben einige Zimmer kindersicher gemacht. Wenn Sie also etwas von ihren wertvollen Sammlerstücken vermissen, dann nicht weil ich sie geklaut habe. Sie sind nur in Sicherheit.“ Sie ließ sich durch Mitchs Ablenkungsmanöver nicht von ihrer Frage abbringen. „Warum ist das Bild trügerisch?“
    „Lassen Sie es gut sein“, meinte Mitch nur und wandte sich ab.
    Carly hielt ihn am Arm fest. Es war das erste Mal, dass sie Mitch bewusst anfasste, und ihre Hand zitterte leicht, als sie seinen Bizeps berührte und merkte, wie er zusammenzuckte. „Mitch, Sie erwarten, dass ich Rhett in Ihrem Haus wohnen lasse. Wir werden hier ein Jahr unter einem Dach verbringen. Dann müssen Sie auch ein wenig von sich preisgeben. Was ist daran so schlimm? Hat Ihre Familie irgendwelche Leichen im Keller?“
    Mitch fuhr sich durchs Haar. Mit dieser Bewegung löste er sich geschickt aus ihrem Griff. Auch er betrachtete das Bild einen Moment lang. Dann sagte er: „Nehmen Sie zum Beispiel meine Mutter. Auch wenn man es auf diesem Bild nicht sieht, war sie ganz bestimmt keine glückliche Frau. Wenige Monate nachdem das Bild gemalt wurde, starb sie bei einem Autounfall, von dem wir alle nicht wissen, ob sie ihn nicht bewusst herbeigeführt hat.“
    „Das tut mir sehr leid“, erklärte Carly betroffen. „Wenn Sie damals erst elf waren, muss es besonders hart für Sie gewesen sein.“
    Ein nur allzu bekannter Schmerz flammte in Carly auf. Die Zeit ab dem elften, zwölften Lebensjahr hatte ihre Mutter immer die „Jahre der Prüfungen“ genannt. Carlys eigene Tochter war jetzt auch zwölf. Ob sie schon einmal nach ihr, ihrer leiblichen Mutter, gefragt hatte? Fragte sie sich vielleicht sogar, wieso ihre Mutter sie weggegeben hatte? Carly konnte nur beten – und tat das häufiger –, dass die Familie, bei der ihr Mädchen lebte, genauso fürsorglich und liebevoll war wie Eileen und Dan Corbin, ihre und

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