Wenn es Nacht wird in Miami
Marlenes Adoptiveltern.
Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für solche Grübeleien. Es führte zu nichts, sich immer dieselben Fragen zu stellen. Der Schmerz ließ sie sowieso nicht los. Er war immer da.
Mitch war an die Hausbar gegangen, füllte sich einige Eiswürfel in sein Glas, goss aber nur Sodawasser dazu. Carly konnte sein Gesicht in dem Spiegel hinter der Batterie von Flaschen sehen. Er sah wirklich abgespannt aus.
„War wohl ein harter Tag?“, erkundigte sie sich mitfühlend.
Mitch hob den Kopf, und ihre Blicke begegneten sich im Spiegel. „Ich muss meinen Bruder Rand einarbeiten, der fünf Jahre an der Westküste verbracht hat, wo er nichts mit der KCL zu tun hatte. Und die Vertretung für meine Schwester Nadia muss ebenfalls eingearbeitet werden.“
„Muss das denn an einem Sonntag sein?“
„Das Kreuzfahrtgeschäft ist hart. Rund um die Uhr, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr. Ich sage Ihnen jetzt Gute Nacht und ziehe mich zurück.“
Carly berührte es eigenartig, in ihm einmal nicht den unerschütterlichen, arroganten, stets siegesgewohnten Mitch Kincaid zu sehen, sondern einen ganz normalen Mann, der müde von der Arbeit kommt. Unwillkürlich erwachte der Wunsch in ihr, etwas für Mitch zu tun, ihn aufzurichten.
„Haben Sie schon gegessen? Mrs. Duncan hat einen Teller für Sie in den Kühlschrank gestellt. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen das warm machen.“
Mitch blickte sie misstrauisch an. „Ich bin durchaus selbst imstande, eine Mikrowelle zu bedienen. Danke.“
Carly zuckte die Achseln. Eigentlich konnte er ihr doch gestohlen bleiben mit seinen pampigen Antworten. Aber nicht zuletzt Rhett zuliebe ließ sie sich nicht provozieren. „Natürlich können Sie das. Es war ja nur ein freundliches Angebot.“
Mitch schwieg eine Weile, dann sagte er: „Etwas zu essen könnte wirklich nicht schaden.“
Carly ging voran. Inzwischen fand sie sich in dem riesigen Haus ein wenig besser zurecht. Sie holte den vorbereiteten Teller aus dem Kühlschrank und stellte ihn in die Mikrowelle. „Ich habe mir heute Ihren Fitnessraum angesehen. Wirklich beeindruckend, nur vom Feinsten. Kann ich ihn mal benutzen?“
„Wenn Sie möchten.“
Sie lehnte sich an den Küchentresen. „Ich könnte Sie auch bei Ihrem Workout coachen, ihre Werte überprüfen und so weiter. Ich bin gut darin.“
Er drehte sich zu ihr. „Was soll das?“, fragte er schroff.
„Was soll was?“
„Was Sie gerade versuchen?“
„Was denn? Ihnen Essen warm zu machen? Mich zu bemühen, höflich zu sein? Konversation zu betreiben?“
„Sie wissen genau, was ich meine. Sie versuchen, mich einzuwickeln.“
Carly schnaubte verächtlich. Sie gab es auf. Diesem Mann war mit Freundlichkeit nicht beizukommen. „Das ist nun schon das zweite Mal, dass Sie mir unterstellen, ich wollte Ihnen irgendwie zu nahe kommen.“ Sie deutete auf ihren Trainingsanzug, auf dem noch die Spuren von Rhetts Abendessen zu sehen waren. „Sehe ich so aus, als wollte ich Sie verführen? Machen Sie doch die Augen auf.“
Mitch nahm die Einladung an und musterte sie von Kopf bis Fuß, und erneut ärgerte es Carly ungemein, dass seine Blicke, die bei ihren Brüsten und auf ihrer Hüfte verweilten, ihre Wirkung nicht verfehlten. „Das funktioniert bei mir nicht, Miss Corbin. Ich bin nicht so eine leichte Beute wie mein Vater und falle auf die Angebote der erstbesten attraktiven Frau nicht herein.“
„Ich habe Ihnen gar nichts angeboten“, erwiderte Carly wütend, „außer ein paar Resten.“
„Genau das wollte ich damit sagen.“
Der Timer der Mikrowelle piepte. Mitch griff an ihr vorbei, holte den Teller heraus und ging damit zum Küchentisch. Carly fielen zu seinen Unverschämtheiten einige passende Antworten ein. Sie hatte es in ihrem Beruf oft mit jungen Sportlern zu tun, die mitunter einen recht rauen Umgangston pflegten, sodass ihr Vokabular für diesen Zweck durchaus ausreichte. Aber sie hielt den Mund. Sie knallte ihm eine Gabel neben dem Teller auf den Tisch und sagte: „Wenn Ihr Vater genauso ein Ekelpaket war wie Sie, frage ich mich ernsthaft, was Marlene von ihm wollte.“
„Ich nehme an, eine Art kostengünstige Altersversorgung“, erwiderte Mitch ungerührt.
Carly warf ihm einen vernichtenden Blick zu, sagte aber nichts. Sie hätte lieber den Mund halten sollen. Was sie in Marlenes Tagebuch gelesen hatte, ging leider genau in die Richtung, die Mitch gerade angedeutet hatte. Das war die traurige
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