Wenn es Nacht wird in Miami
in seinem Kinderbettchen, als Mitch das Zimmer betrat. Die Miene des Kleinen hellte sich aber sofort auf, als er sah, wer da gerade hereingekommen war.
Der Anblick versetzte Mitch wieder einen Stich. Aber war es so schlimm, wenn er etwas für Rhett empfand? Mitch versuchte, vernünftig darüber nachzudenken. Rhett würde bald zum Haushalt und zur Familie der Kincaids gehören – ohne Carly.
Er hob Rhett hoch und wurde gleich von ihm stürmisch umarmt. Mitch machte sich vorsichtig los und drückte dem Kleinen ein Plüschkrokodil in die Hände, das Rhett beschäftigte, solange Mitch die Windeln wechselte.
„Wie wäre es mit etwas zu essen?“, fragte Mitch, als er damit fertig war.
Mit Rhett auf dem Arm lief er die Treppe hinunter und in die Küche. Mrs. Duncan empfing ihn mit kritischem Blick. Erst jetzt bemerkte Mitch, dass er in der Eile sein Polohemd verkehrt herum angezogen hatte.
„Carly schläft noch, und wir beide brauchen etwas zum Lunch“, erklärte Mitch.
Er setzte Rhett in seinen Hochstuhl, holte das Obst und den Käse aus dem Kühlschrank, das Carly schon klein geschnitten hatte, und füllte eine Portion davon in Rhetts Schale. Wieder musste er daran denken, wie er dasselbe früher für Travis getan hatte. Jahre lag das jetzt schon zurück und war ihm in manchen Momenten noch immer so gegenwärtig, als sei es erst gestern gewesen.
Unbeirrt widmete sich Mrs. Duncan weiter ihrer Küchenarbeit. Mitch fragte sich, womit er dieses vorwurfsvolle Schweigen verdient hatte.
„Würden Sie bitte einen Augenblick auf Rhett aufpassen?“, bat er sie dann, mehr um überhaupt etwas zu sagen. „Ich gehe mich mal eben frisch machen.“
„Jawohl, Sir.“
Was hatte sie nur?
Mitch verschwand in der Bibliothek und zog sich dort sein Hemd richtig an. Dabei fiel sein Blick auf das rot blinkende Lämpchen des Anrufbeantworters. Er ging zum Telefon und drückte auf die Abspieltaste.
„Hallo, Kincaid“, hörte er die Stimme von Frank Lewis. „Ich bin auf eine Goldader gestoßen. Aber ich brauche noch etwas Zeit, um die Sache rund zu machen. Melde mich dann wieder.“
Mitch war erstaunt. Die Stimme seines Privatdetektivs klang ungewohnt euphorisch. Was konnte er entdeckt haben, was ihn so begeisterte? Mitch verspürte eine gewissen Neugier, aber nicht so stark, wie er es eigentlich erwartet hätte. Etwas in ihm wollte anscheinend nicht mehr so genau wissen, was in Carlys Jugend passiert war, und das irritierte ihn. Waren es erste Anzeichen von Schwäche?
Er drückte die Löschtaste und ging ins angrenzende Badezimmer, um sich das Gesicht zu waschen. Etwas ratlos blickte er in den Spiegel. Sein Ebenbild dort sah alles andere als kalt und entschlossen aus. Fast kam es ihm vor, als sei da eine Spur von Enttäuschung in seinen Zügen. Enttäuschung? Etwa darüber, dass er Carly nun doch nicht zu heiraten brauchte, wenn Lewis etwas ausgegraben hatte?
Als Carly die Küche betrat, war sie immer noch aufgewühlt. Sie sah in Mitchs grüne Augen, und das Blut stieg ihr in die Wangen.
Formvollendet erhob sich Mitch und rückte ihr neben Rhett einen Stuhl an den Tisch. Ihr Herz klopfte schneller, als sie Mitchs Nähe spürte, aber mehr als ein flüchtiges Aufblitzen in seinem Blick fiel ihr an Mitch nicht auf. Er machte auf sie den Eindruck, als sei nichts gewesen.
„Hi“, brachte sie mit einiger Mühe hervor und ärgerte sich, wie gehemmt sie plötzlich war.
Mitch nickte ihr zu. Keine heimliche Berührung, als sie sich hinsetzte, kein verborgener Wink, keine Spur mehr von dem, was sie vor Kurzem noch in ihren Grundfesten erschüttert hatte. Mit stoischer Ruhe kehrte Mitch auf seinen Platz zurück. In der einen Hand hielt er das Sandwich, das ihm Mrs. Duncan serviert hatte, während er mit der anderen die neben ihm liegende Post durchsah.
Carly war nicht so unerfahren, dass sie das unangenehme Gefühl von Beklommenheit am Morgen danach nicht kannte. Aber das war ihr neu. Es konnte nicht daran liegen, dass es schon fast Nachmittag war. Auch Dellas Gegenwart störte sie nicht. Sie fühlte sich aus einem Grund, den sie nicht benennen konnte, unsicher und irgendwie von Mitch im Stich gelassen.
Mein Gott, dachte sie, ich bin dabei, mich in Mitch zu verlieben. Das darf nicht wahr sein!
War es tatsächlich mehr, was sie für Mitch empfand? War es mehr als gelegentlich Sympathie und eine – zugegeben ziemlich starke – erotische Anziehung? Sie brauchte nicht lange nach der Antwort zu suchen. Das Gefühl von tausend
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