Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
Wirklichkeit hatte sie nur einen einzigen Traum, doch den durfte sie Josie nicht anvertrauen: Sie wünschte sich, ihre Stiefmutter würde eines Tages Mann und Farm den Rücken kehren, damit sie mit ihrem Vater den Hof bewirtschaften könnte.
Lautes Rufen vom Haus her hinderte sie daran, sich weiteren Spekulationen über ihre Zukunft hinzugeben.
»Das ist Mum«, murmelte Josie gedrückt. »Lass uns lieber nachsehen, was sie will.«
Sie gingen den steilen Weg über die untere Weide hinauf. Die Hände in die Seiten gestemmt, stand Violet am Gartenzaun. Schon von weitem konnte man ihr ansehen, dass ihr eine Laus über die Leber gelaufen war.
Violet war jetzt einundvierzig, sah aber wesentlich älter aus. Sie hatte in den vergangenen zwei, drei Jahren etliche Kilo zugenommen, und die Bitterkeit hatte sich in tiefen Falten um ihren Mund eingegraben. Es waren nicht ihre schlechten Zähne oder ihr Silberblick, die den Mädchen peinlich waren, sondern vor allem ihr schlampiges Äußeres. Sie trug tagein, tagaus dasselbe schäbige, sackförmige, vor Schmutz starrende Kleid; sie wusch sich kaum je die Haare und roch immer nach Schweiß. Seit über einem Jahr schlief das Ehepaar getrennt. Albert war in das winzige Gästezimmer gezogen, als sie einmal krank gewesen war, und dann dort geblieben. Josie versuchte immer wieder, sie zu überreden, sich ein bisschen schick zu machen, doch auf diesem Ohr war Violet taub.
Ellen fand, das einzig Gute an ihr waren ihre hervorragenden Kochkünste. Außer für Josie interessierte sich Violet nur fürs Essen, was zur Folge hatte, dass sie sich permanent etwas in den Mund steckte. Sie habe eben als Kind oft hungern müssen, verteidigte Josie sie oft, und sei außerdem niedergeschlagen, weil sie keine weiteren Kinder mehr bekommen hätte.
Doch Ellen empfand kein Mitleid mit ihrer Stiefmutter. Viele ihrer Nachbarn waren in bitterer Armut aufgewachsen und aßen trotzdem nicht ununterbrochen. Und wenn Violet ein bisschen mehr auf ihr Äußeres geachtet hätte, um ihrem Mann zu gefallen, würde sie vielleicht auch mehr Kinder gehabt haben.
»Wo habt ihr euch rumgetrieben?«, schimpfte Violet, als die Mädchen näher kamen.
»Wir waren unten am Strand, Mum«, rief Josie fröhlich zurück. »Was ist denn los?«
»Ich hab ein Telegramm bekommen. Meine Mutter ist krank, ich muss sofort nach Helston. Lauf ins Dorf, Ellen, und frag Mr. Peters, ob er mich hinfahren kann. Sag ihm, es ist ein Notfall. Und du, Josie, hilfst mir beim Packen.«
Die Mädchen schauten sich verdutzt an. Diese Großmutter in Helston hatten sie nur ein einziges Mal besucht, vor ungefähr sechs Jahren. Sie war uralt, unausstehlich und wohnte in einem düsteren, muffig riechenden Haus. Ellen und Josie hatten sie für eine Hexe gehalten. Und Violet hatte ihres Wissens seit damals keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt.
»Steh nicht da wie ein Ölgötze!«, fuhr Violet Ellen an. »Geh endlich! Und beeil dich gefälligst!«
Vor lauter Freude über die Aussicht, ihre Stiefmutter ein paar Tage los zu sein, dachte Ellen nicht einmal daran zu fragen, warum ihr Dad Violet nicht in seinem alten Laster hinfuhr oder wo er überhaupt steckte. Sie lief den Feldweg zur Straße hinauf, rannte die halbe Meile bis zum Zaun, ohne ein einziges Mal anzuhalten und zu verschnaufen, kletterte darüber und jagte über den Pfad zwischen den Feldern weiter bis nach Mawnan Smith.
Mr. Peters wohnte in einem schmucken Häuschen mitten im Ort. Er war Lehrer in Exeter gewesen und nach seiner Pensionierung hierher gezogen. Er besserte sich seine Rente auf, indem er Leute zu einem sehr viel günstigeren Preis als die Taxibetriebe in Falmouth herumkutschierte.
Er jätete gerade Unkraut im Garten vor dem Haus, als Ellen angerannt kam. Sie mochte ihn, weil er zu den wenigen wirklich interessanten Menschen im Dorf gehörte. Er war groß und hager und trug seine übliche Sommerkluft: ausgebeulte knielange Shorts, ein auffällig gemustertes Hemd und einen ramponierten Strohhut.
»Könnten Sie Mum nach Helston fahren? Unsere Großmutter ist krank geworden«, stieß Ellen keuchend hervor. Sie hatte Seitenstechen und bekam kaum noch Luft.
Mr. Peters ließ seine Gabel fallen. »Welche von beiden bist du jetzt, Ellen oder Josie?«, fragte er lächelnd.
»Ellen natürlich«, antwortete sie und grinste. Das war ein Spaß zwischen ihnen, denn während Josie nie auch nur ein Wort mit ihm wechselte, nutzte Ellen jede Gelegenheit zu einem Plausch.
»Aber klar.« Er
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