Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
doch bestimmt schon längst unter die Nase gerieben, was für ein Mistkerl ich bin.« Er lächelte bitter. »Und jetzt werden sie es glauben – und vielleicht denken, ich könnte mich tatsächlich an Josie vergreifen. Also wird einer von ihnen sie wohl bei sich aufnehmen.«
Ellen begriff, worauf er hinauswollte. Heller Zorn packte sie. Es war einfach widerlich, dass eine Mutter ihre Tochter auf diese Weise benutzte, um ihre Ziele zu erreichen.
Das Gerede der Erwachsenen über ihren Vater störte sie nicht, aber sie befürchtete, es könnte Josie schaden. Wenn ihre Verwandtschaft anfing, so viel Aufhebens um sie zu machen, ihr schöne Kleider zu kaufen und sie zu verwöhnen, würde Josie möglicherweise daraus folgern, dass an den Behauptungen ihrer Mutter etwas Wahres war.
»Das kannst du dir doch nicht gefallen lassen«, rief sie.
Albert breitete hilflos die Hände aus. »Was soll ich denn tun? Vi wird jeden Brief, den wir Josie schreiben, abfangen. Wenn ich hinfahre, werden sie mich nicht zu ihr lassen. Wenn ich vor Gericht geh, werd ich verlieren. Ich hab nicht die geringste Chance.«
»Ich glaub einfach nicht, dass Josie uns so schnell vergessen wird«, entgegnete Ellen zuversichtlich.
»Darauf würde ich nicht wetten, Kleines.« Er stand vom Tisch auf. »Sie ist in mancher Hinsicht die Tochter ihrer Mutter. Sie hängt nicht an der Farm so wie du, und sie hat schon mit der Muttermilch eingesogen, dass ich nie für sie da war. Genug geredet. Beeil dich lieber, sonst kommst du zu spät zur Arbeit. Ich erledige das hier schon.«
Ellen stand auf, legte die Arme um ihren Vater und schmiegte sich an ihn. Sie wusste jetzt, dass er Josie wirklich liebte, weil er genauso traurig war wie sie selbst und sich die Schuld an der Entwicklung der Dinge gab. Sie hätte ihm gern gesagt, wie sehr sie ihn liebte, doch »Schmus«, wie er es nannte, machte ihn nur verlegen.
Er drückte sie einen Augenblick fest an sich. »Aber jetzt schnell zur Arbeit. Heute ist doch Zahltag, oder?«
Ellen nickte.
»Behalte dein Geld nur. Höchste Zeit, dass du dir auch mal was gönnst. Und mach dir keine Gedanken wegen meines Abendessens. Gönn dir lieber einen netten Abend mit deinen Freunden, vielleicht könnt ihr ins Kino gehen oder so.«
Als sich Ellen eine Jacke aus ihrem Zimmer holte, fiel ihr Blick auf das Foto von Josie und sich, das neben ihrem Bett lag. Sie war acht und Josie sechs gewesen, als es aufgenommen worden war. Es war ein ganz besonderes Foto, weil ein richtiger Fotograf es für die Lokalzeitung gemacht hatte. Er hatte sie zusammen mit einem Reporter, der einen Artikel über die Farmer der Region schrieb, im Sommer neunzehnhundertfünfundfünfzig besucht und Ellen und Josie gefragt, ob er sie fotografieren dürfe, weil sie so hübsch seien. Später hatte er ihr und ihrer Schwester je einen Abzug geschickt.
Für Ellen stellte das Bild eine Erinnerung an die glückliche Zeit dar, als sich ihre Welt nur um die Farm und ihre Familie gedreht und sie noch nichts von einer leiblichen Mutter gewusst hatte. Als sie es jetzt betrachtete, allein, ohne Josie, überkam sie eine unsagbare Traurigkeit. Sie spürte, diese Trennung würde sie beide verändern. Nichts würde jemals wieder so sein, wie es gewesen war.
An diesem Tag herrschte am Kiosk Hochbetrieb. Das Mädchen, das normalerweise mit Ellen arbeitete, war nicht gekommen, und der Strand war bevölkert wie nie zuvor. Ellen hatte alle Hände voll zu tun und war froh darüber: Das lenkte sie von den Gedanken an Josie und ihre Mutter ab.
Die Urlauber waren ein faszinierendes Völkchen. Ellen liebte es, ihre fremdartigen Dialekte zu hören und zuzuschauen, wie sie mit ihren Kindern umgingen. Das war wie ein flüchtiger Blick durch die Tür in eine fremde Welt. Ihre Eltern waren nie mit Josie und ihr zum Strand gegangen, auch nicht in die kleine Bucht hinunter. Ihre Mutter hatte ihnen höchstens Angst gemacht, damit sie nicht zu weit hinausschwammen. Das Schwimmen hatten sie sich selbst beigebracht, genau wie das Radfahren, Klettern, Bockspringen oder den Handstand. Unter einem Picknick verstanden sie, einen Apfel zu essen, und Ellen konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihre Mum und ihr Dad im Sand saßen, Tee aus der Thermoskanne ausschenkten, mit ihnen plantschten oder Sandburgen bauten, wie die Urlauber es taten.
Am meisten jedoch faszinierten Ellen die Orte, aus denen die Leute angereist kamen. Da sie nie weiter als bis nach Truro gekommen war, haftete
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