Wenn wir uns wiedersehen: Thriller (German Edition)
älter als Annamarie und hatte ihre kleine Schwester stets wie ein eigenes Kind behandelt. Da Lucy zwar ein hübsches Gesicht hatte, aber sonst recht hausbacken aussah, hatte sie sich besonders gefreut, als aus dem niedlichen kleinen Mädchen, eine sympathische und kluge junge Frau wurde.
Als Annamarie älter wurde, achteten Lucy und ihre Mutter sehr darauf, mit wem sie ausging, und überlegten sich, welchen Beruf sie einmal ergreifen sollte. Sie waren sehr zufrieden, als sie sich für die Krankenpflege entschied, ein anständiger Broterwerb – und vielleicht würde sie sogar einmal einen Arzt heiraten. Denn die beiden Frauen waren sich einig, daß Annamarie keine Schwierigkeiten haben würde, einen Mann zu finden.
Zunächst waren sie enttäuscht, daß Annamarie die Stelle in der Lasch-Klinik annahm, denn Greenwich, Connecticut, war sehr weit von Buffalo entfernt. Doch als sie zweimal Dr. Jack Morrow übers Wochenende mit nach Hause brachte, glaubten die Mutter und Lucy, daß all das in Erfüllung gehen würde, was sie sich für Annamarie wünschten.
Nun saß Lucy während des kurzen Gottesdienstes in der ersten Reihe der Kapelle und erinnerte sich an glücklichere Zeiten. Sie dachte daran, wie Jack Morrow Mama
geneckt und gesagt hatte, er werde es schon mit Annamarie aushalten, auch wenn sie nicht kochen könne wie ihre Mutter. Besonders klar stand ihr der Abend vor Augen, an dem er geklagt hatte: »Mama, was soll ich nur machen, damit deine Tochter sich in mich verliebt?«
Und dabei war sie in ihn verliebt, überlegte Lucy, als ihr heiße Tränen über die Wangen liefen. Bis dieser widerliche Gary Lasch anfing, ihr nachzustellen. Sie sollte nicht in diesem Sarg liegen, sondern seit sieben Jahren mit Dr. Jack verheiratet sein. Sie hätte Kinder bekommen und trotzdem Krankenschwester bleiben können. Nie hätte er von ihr verlangt, ihren Beruf aufzugeben. Sie war mit Leib und Seele Krankenschwester, und auch ihm bedeutete es sehr viel, Arzt zu sein.
Lucy drehte sich um und betrachtete traurig den Sarg, der mit einem weißen Tuch bedeckt war, dem Symbol für Annamaries Taufe. Du hast so gelitten wegen dieses… Schweinehunds, Gary Lasch, dachte sie. Nachdem er dir den Kopf verdreht hatte, wolltest du mir weismachen, du seist noch nicht bereit, Jack zu heiraten. Doch das stimmte nicht. Du warst sehr wohl bereit. Du warst nur vom rechten Wege abgekommen, Annamarie. Du warst noch so jung. Er hingegen wußte genau, was er tat.
»Möge ihre Seele, und mögen die Seelen aller Gläubigen, die schon verstorben sind …«
Lucy hörte die Stimme des Monsignore kaum, als dieser den Sarg ihrer Schwester segnete, so groß waren ihre Trauer und ihre Wut. Annamarie, schau, was dieser Mann dir angetan hat, sagte sie sich. Er hat dein ganzes Leben ruiniert. Du hast sogar die Arbeit im Krankenhaus aufgegeben, die dir solche Freude gemacht hat. Obwohl du nie darüber reden wolltest, hast du dir etwas nie verziehen, was in der Klinik geschehen ist. Was war es?
Und Dr. Jack. Wie ist er wirklich umgekommen? Unsere arme Mama war so verrückt nach ihm und so beeindruckt. Sie nannte ihn nie Jack, sondern immer Dr. Jack. Und du
hast selbst zugegeben, daß du nie an einen Überfall eines Drogensüchtigen geglaubt hast.
Annamarie, warum hattest du all die Jahre solche Angst, selbst als Molly Lasch im Gefängnis war?
Kleine Schwester… kleine Schwester.
Lucy hörte rauhe, laute Schluchzer durch die Kapelle hallen und wußte, daß sie von ihr kamen. Als ihr Mann ihr die Hand tätschelte, zog sie sie weg. Im Augenblick gab es nur einen Menschen, dem sie sich verbunden fühlte: Annamarie. Der Sarg wurde den Mittelgang der Kapelle entlanggeschoben. Lucys einziger Trost war, daß es vielleicht ein Jenseits gab, in dem ihre Schwester und Jack Morrow noch eine zweite Chance haben würden, glücklich zu sein.
Nach der Beerdigung flüchteten sich Lucys Sohn und ihre Tochter zurück an ihren Arbeitsplatz. Auch ihr Mann mußte wieder in den Supermarkt, wo er Filialleiter war.
Lucy ging nach Hause und sortierte die Kommode aus, in der Annamarie als junges Mädchen ihre Sachen aufbewahrt hatte. Das Möbelstück stand in dem Zimmer, wo Annamarie bei ihren Besuchen in Buffalo immer schlief.
Die drei obersten Schubladen enthielten Unterwäsche, Strumpfhosen und Pullover, die Annamarie nur während der Wochenenden in Buffalo trug.
In der untersten Schublade lagen Fotos, manche davon gerahmt, Familienalben, Kuverts voller Schnappschüsse,
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