Wer hat Alice umgebracht?
Stattdessen gab er mir einen Kuss. Dieser Kerl war einfach fantastisch. Obwohl ich sehr angespannt war, ließ mich die Berührung durch seine heißen Lippen für einen Moment meine Sorgen ein wenig vergessen. Wir lösten uns wieder voneinander.
Da öffnete sich der Nebeneingang der Kunsthochschule. Unwillkürlich hielt ich den Atem an. Ich erblickte Fiona, die ein grünes Sommerkleid trug und ihre Umhängetasche dabeihatte. Allison sprach sie an. Natürlich konnte ich nicht hören, was geredet wurde. Schließlich befanden sich die beiden auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Allison deutete auf ihr Auto, in dem wir saßen. Fiona machte eine ängstliche, abwehrende Bewegung. Aber Allison gestikulierte wild, offenbar redete sie mit Engelszungen. Nun blickte Fiona in unsere Richtung. Für einen Moment spürte ich wieder die freundschaftlichen Gefühle aufflackern, die es zwischen Fiona und mir gegeben hatte. Jedenfalls gab sich Fiona jetzt einen Ruck. Zögernd kam sie auf unser Auto zu. Gleich darauf öffnete sie die Beifahrertür und ließ sich auf den Sitz fallen. Auch Allison stieg wieder ein und deutete mit dem Daumen auf mich.
„Du hörst dir jetzt an, was Lindsay zu sagen hat, Fiona! Und wenn du auch nur noch einen Funken Anstand im Leib hast, wirst du dich genauso schämen wie ich.“
Als sie nun den Mund öffnete, wurde mir klar: Fiona war stur. Sie wollte sich nicht eingestehen, dass sie einen Fehler gemacht hatte.
„Wir konnten nicht anders, Alice hat uns dazu gezwungen“, behauptete sie. Ich war so perplex, dass ich darauf zunächst nicht reagieren konnte. Auch Cameron blieb ausnahmsweise die Luft weg. Allison dagegen schüttelte traurig den Kopf. Sie fuhr sich mit beiden Handflächen über das Gesicht. Ihre Augen schimmerten feucht, als sie zu sprechen begann. Noch nie zuvor hatte ich die taffe Sportlerin weinen gesehen. Dadurch erschienen mir ihre Worte noch eindringlicher.
„Wir konnten nicht anders, ja? Sieh dir Lindsay genau an, Fiona. Ihr Leben ist verpfuscht. Glaubst du, als verurteilte Mörderin wird sie jemals einen anständigen Job kriegen? Wenn sie eines Tages aus dem Knast entlassen wird, dann gibt ihr niemand eine Chance. Und warum nicht? Weil sie ein Mal gesessen hat. Lindsay hat mich nicht dazu gezwungen, meine Leistungen mit Doping aufzupeppen. Und sie hat dir auch nicht gesagt, dass du deinen Freund betrügen sollst. Das haben wir uns nämlich selbst zuzuschreiben.“
Allisons Appell an Fionas Gewissen verfehlte seine Wirkung nicht. Meine andere Exfreundin wurde kreidebleich. Ihr Adamsapfel hob und senkte sich. Sie nagte an ihrer Unterlippe. Als sie zu sprechen begann, klang ihre Stimme dünn und brüchig, wie bei einem kleinen Kind. Von ihrer bockigen Fassade war nichts übrig geblieben.
Eigentlich war ich froh, dass ich mich in meinen Freundinnen nicht so völlig getäuscht hatte. Sicher, beide waren mir in den Rücken gefallen. Doch sobald sie mir Auge in Auge gegenüberstanden, erinnerten sie sich an unsere Freundschaft. Ich glaubte nun auch Fiona, dass sie ihren Verrat bereute. Jedenfalls klangen ihre Worte wirklich ziemlich zerknirscht.
„Ich wünschte, ich könnte alles ungeschehen machen, Lindsay. Es war so dumm und unüberlegt von mir, gegen dich auszusagen. Du musst uns doch hassen, Allison und mich.“
„Nein, ich hasse euch nicht. Aber ich brauche eure Hilfe, um meine Unschuld zu beweisen. Ich glaube inzwischen, dass Alice untertauchen wollte. Sie muss ein düsteres Geheimnis gehabt haben, von dem niemand etwas wusste.“
Fiona nickte zerstreut und warf Cameron einen scheuen Blick zu. Ich erklärte ihr, wer er war und warum er neben mir im Auto saß. Fiona war bekannt dafür, dass sie alle attraktiven Typen hemmungslos anflirtete, aber bei Cameron versuchte sie es nicht. Also musste sie wirklich im Innersten zutiefst erschüttert sein. Vielleicht dachte Fiona auch nur angestrengt nach. Jedenfalls schnippte sie plötzlich mit den Fingern.
„Hey, dazu fällt mir was ein! Ich war mal mit Alice unterwegs, weil wir für ein Uni-Projekt Alufolie besorgen sollten. Plötzlich klingelte ihr Handy. Offenbar passte es ihr überhaupt nicht, angerufen zu werden. Sie ging ein paar Schritte zur Seite, damit ich das Gespräch nicht mithören konnte. Alice zoffte sich mit dem Anrufer, so viel war klar. Ich kriegte nur noch den Schluss des Telefonats mit. Alice sagte: ‚Aber wir wollten doch gemeinsam fortgehen, Delbaeth!‘ Dann beendete sie das Gespräch. Für den Rest des
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