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Wer ins kalte Wasser springt, muss sich warm anziehen

Wer ins kalte Wasser springt, muss sich warm anziehen

Titel: Wer ins kalte Wasser springt, muss sich warm anziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Baehr , Christian Boehm
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spätabends reinziehen müssen. Nur bei Barnie ist es nicht der Job, der ihn um den Verstand bringt. Barnie hat kein Problem mit den Problemen anderer Leute. Ich bin mir sicher, dass er in jeder Therapiesitzung spätestens nach fünf Minuten abschaltet. »Alles klar?«, frage ich, obwohl ich genau weiß, dass nichts klar ist.
    »Logo«, antwortet Barnie mit gequältem Lächeln.
    Es ist wieder Champions-League-Abend. Die Bayern spielen im Camp Nou in Barcelona. Es gilt zwei Tore aus dem Hinspiel aufzuholen. Normalerweise würde ich sagen: Ding der Unmöglichkeit. Aber seit ich weiß, dass Barnie Papa wird, bin ich mit Aussagen Unmöglichkeiten betreffend vorsichtig. Die Bayern brauchen trotzdem ein Wunder, um ins Halbfinale zu kommen. »Du siehst so traurig aus«, spende ich meinem besten Freund Mitleid.
    Barnie seufzt.
    »Ist scheiße, oder?«
    »Geht schon.«
    Nach einer Schweigeminute und dem Abspielen der Champions-League-Hymne murmelt Barnie kaum hörbar, dass es eigentlich ergreifend war. Ich will sofort wissen, was ergreifend war. Was für ein Wort. Barnie ist der letzte Mensch, von dem ich geglaubt hätte, dass er solche Wörter benutzt.
    »Weißt du, Mark«, beginnt er. »Tja, wie soll ich sagen?« Pause. »Ich war doch heute beim Frauenarzt. Mit Lilly. Ultraschall. Ich weiß nicht, ob du das verstehst. Aber einerseits hat das echt Gefühle geweckt, auch wenn sich das jetzt doof anhört. Ich kann’s nur nicht besser beschreiben. Der Knirps und so …«
    »Andererseits?«
    »Habe ich echt Schiss.«
    »Wovor?«
    »Der Verantwortung für ein Menschenleben. Dass ich kein guter Vater sein werde. Dass das Kind ein zweiter Hitler wird.«
    »Oder ein zweiter Florian Silbereisen.«
    »Gott bewahre.«
    »Und deine Freundin?«
    »Sie ist nicht meine Freundin.«
    In der Mitte der ersten Halbzeit klingelt Barnies Handy. Er wirft einen kurzen Blick aufs Display, verzieht sein Gesicht mit einer Mischung aus Begehren und Verzweifeln und lässt es klingeln. Ich tue so, als würde ich nichts hören und nichts sehen. Ich sage auch nichts.
    Weil auf dem Rasen nach einer verpufften Anfangsoffensive unseres Lieblingsclubs gerade nichts passiert, stehe ich auf und hole noch zwei Bier. Vom Kühlschrank in geschätzten hundert Metern Entfernung zur Fernsehecke kann ich zumindest unscharf erkennen, dass Barnie nach dem Telefon greift und schnell einen Rückruf erledigt.
    »Danke«, sagt mein bester Freund, als ich ihm die Flasche vor die Nase halte. Er nimmt einen kräftigen Schluck. »Tut gut.« Ich nicke. Barnie mokiert sich über eine Schiedsrichterentscheidung. »Ecke«, schreit er. »Hast du Tomaten auf den Augen? Du Depp! Das war doch eindeutig Ecke.« Er schüttelt den Kopf. Ganz beiläufig sagt er dann, dass übrigens Lilly nachher noch vorbeischaut.
    »Lilly?«
    »Was dagegen?«
    »Nein«, sage ich. Ich bin nur verwundert, um nicht zu sagen total verwirrt.
    Barnie kann es nämlich auf den Tod nicht ausstehen, mit Frauen Fußball zu gucken. Das hat er ein Mal gemacht. Bei der Weltmeisterschaft 2006. Public Viewing. Danach nie wieder. Barnie lebt Fußball. Aus dem Stegreif könnte er einen zweistündigen Vortrag über die Seele des Spiels halten. Er braucht nicht zu googeln, er weiß alles auswendig. Wer wann wo was gewonnen hat. Aufstellungen, Torschützen, Halbzeitergebnisse. Er hasst es, wenn Nullchecker, wie er es formuliert, neunzig Minuten lang nur Blödsinn labern. Barnie ist ein Systemfetischist. Als es in der Bundesliga noch Mode war, mit Libero und Vorstopper zu spielen, hat er bereits über Viererabwehrketten und Raumdeckung referiert.
    Es war natürlich auch Barnie, der mich auf dem Internat mit dem Fußballfieber angesteckt hat. Es begab sich zu der Zeit, als Deutschland das letzte Mal Fußballweltmeister wurde, 1990 in Bella Italia. Innerhalb von drei Tagen hatten wir unser Panini-Album voll. Mein Held war Rudi Völler, Barnies Lieblingskicker Lothar Matthäus. Er hatte sogar ein blauschwarz gestreiftes Trikot mit der Rückennummer 10 von Inter Mailand, wo der deutsche Kapitän damals seine Brötchen verdient hatte.
    »Ist schon komisch«, beginne ich.
    »Was?« Barnie weiß genau, was gleich kommt.
    Ich überlege, ob ich zurückziehen soll, spreche dann aber das Thema offensiv an. »Wie so ein Kind alles verändert.«
    Mein bester Freund blickt mich streng an, kann aber diese Strenge nicht lange halten. Er atmet tief durch. Dann tut er etwas, das ich nie für möglich gehalten hätte – er schaltet den

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