Wie Blueten Am Fluss
Blick kaum
mehr von ihr abwenden.
Gage Thornton hatte sich alles, was er im Augenblick besaß, zu hart erarbeiten müssen, um sich
einreden zu lassen, er könne eines seiner Ziele so mühelos erreicht haben. Diese junge Frau war
ungewöhnlich hübsch und genau das, was er suchte. Aber er argwöhnte, daß es da noch irgendeinen
verborgenen Makel gebe.
Er beugte sich vor, um Annie zu befragen. »Eine Dame, sagst du?« Auf ihr bestätigendes Nicken
stellte er die bohrende Frage. »Aber warum ist sie dann hier? Welches Verbrechen hat sie begangen,
daß man sie auf einem Sträflingsschiff hierher brachte?«
Annie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ein Häscher hat Myliedy entführt, als ihre Eltern nicht
zu Hause waren. Er wollte ihr nicht erlauben, Leute zu holen, die sie kannten. Und deshalb, Sir, war
keiner da, der dem Burschen widersprechen konnte, als er schwor, sie hätte einer anderen Dame den
Schmuck gestohlen.«
Gage war noch lange nicht überzeugt, aber seine Vorbehalte waren doch nicht stark genug, um sein
Interesse an dem Mädchen zu verlieren. Selbst mit schmutzverschmierten Wangen und verfilztem
Haar, das ihr wild über die mageren Schultern und den Rücken fiel, war Shemaines Schönheit
unübersehbar. Ihr Gesicht schien verzaubert, als hätte ein Künstler ein Bild aus einem Traum gemalt
und es mit einem Kuß zum Leben erweckt. Ihrer Herkunft nach war sie wohl durch und durch Irin,
denn keine andere Rasse schien von der Natur mit dieser Kombination aus flammendrotem Haar,
leuchtendgrünen Augen und rahmheller Haut gesegnet zu sein. Trotz der Lumpen, die sie am Leibe
trug, legte ihre anmutige Haltung unleugbar Zeugnis von vornehmer Erziehung ab; sie hatte etwas
geradezu Königliches an sich, wie sie das Kinn leicht emporreckte und ihm direkt in die Augen sah,
als hegte sie keinen Zweifel, daß sie einander ebenbürtig waren.
Gage nahm den ungewöhnlichen Aufruhr seiner Gefühle mit einigem Erstaunen wahr und konnte sich
nur fragen, was ihn mehr erregte - die Entdeckung eines Mädchen, das all seine Anforderun-
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gen an ein Kindermädchen zu erfüllen schien, oder die Aussicht, sich hier noch einen anderen,
unausgesprochenen und stets für hoffnungslos gehaltenen Wunsch erfüllen zu können. Wenn er sie
tatsächlich kaufte, würden seine Absichten für die Zukunft gewiß Freund und Feind gleichermaßen in
Erstaunen setzen. Andererseits wäre es nicht das erste Mal, daß er geziemende Anstandsformen über
Bord warf, um sein Leben in bestimmte Bahnen zu lenken.
Im Geiste legte Gage seinen davonstürmenden Gedanken Zügel an und machte den Bootsmann mit
geheuchelter Lässigkeit auf das Mädchen aufmerksam. »Mr. Harper, ich möchte Ihnen einige Fragen
über diese Gefangene da drüben stellen.«
Gerade als James Harper sich umwandte, um festzustellen, welche der Frauen den Mann interessierte,
kam ein altes Weib vor Shemaine zu stehen. Harper bedeutete der Alten vorzutreten, obwohl er
innerlich den Geschmack und die Vernunft des Mannes in Frage stellte, aber Gage winkte schon
ungeduldig ab. Statt weiter auf Vermittlung zu warten, ging er einige Schritte auf Shemaine zu und bat sie mit einer einzigen knappen Geste vorzutreten.
Shemaine war sich nur allzu deutlich der leuchtendbraunen Augen bewußt, die jede ihrer Bewegungen
verfolgten. Langsam erhob sie sich von dem Lukendeckel und schob sich durch das Gedränge der
Frauen, deren Mienen unverhohlenen Neid und Niedergeschlagenheit verrieten. Man ließ sie jedoch
ungehindert passieren, bis Morrisa ihr den Weg vertrat.
»Wenn ich du war', Schätzchen, tat ich mich hüten, mit diesem Herrn, diesem Thornton, auf und
davon zu spazieren. Ich hab' nämlich mein Lebtag keinen so hübschen Kerl gesehen, und ich will ihn
für mich. Und wenn du mir dazwischenfunkst, Sh'maine, kratz' ich dir die Augen aus.«
Shemaine fand es erstaunlich, daß Morrisa immer noch versuchte, sie einzuschüchtern. Mittlerweile
müßte eigentlich selbst ein Schwachsinniger begriffen haben, daß sie viel zu eigensinnig war, um sich
von Drohungen beeindrucken zu lassen. »Und wenn ich du wäre, Morrisa«, stieß sie mit einem
gezwungenen Lächeln hervor, »würde ich vorher darüber nachdenken, ob der Mann dir dann nicht
vielleicht doch die Peitsche zu kosten geben wird, wenn
du jemanden von seinem Gesinde verletzt, vor allem jemanden, für den er gutes Geld bezahlt hat.«
»Ich kriege dich, Sh'maine, das verspreche ich dir. Und wenn ich dich
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