Wie ein Blütenblatt im Sturm
Wie weit konnte er wohl gehen, bevor sie ihn bremste? Nicht sehr viel weiter vermutlich. Er zog den Arm wieder auf die Stuhllehne zurück. Stück für Stück entspannte sie sich und lehnte sich gegen das Polster, wobei ihre Haut seinen Arm kaum berührte.
Es war ein angenehmes Spiel. Er überlegte gerade, ob er ihren Nacken massieren sollte, als ein Grollen aus den unteren Sitzreihen kam. Augenblicklich wachsam, zog Rafe seinen Arm zurück und beugte sich über das Geländer der Loge. Das Grollen wurde zu einem lauten Getöse, und er sah unter sich Männer, die sich gegenseitig schub-sten und stießen.
Die Schauspieler brüllten hartnäckig ihren Text über den wachsenden Lärm, aber Rufe wie Vive le Roi! konkur-rierten jetzt mit Vive l’Empereur! Der nächste Schauspieler, der etwas zu sagen hatte, wurde mit Obst und Gemüse bombardiert, und die Mimen stoben von der Bühne in die Kulissen.
Ein paar Zuschauer erhoben sich, weiße Banner in den Händen, die sie als königstreu auswiesen. Als die Bonapartisten begannen, violette Flaggen zu schwenken, begriff Rafe, daß es ernst werden würde. Eines der beängstigend-sten Erlebnisse in seinem Leben war es gewesen, als er versehentlich in einen Londoner Straßenkampf geraten war, und der Mob unter ihm schien ähnliches vorzuhaben.
Die Royalisten waren in der Überzahl, und eine der violetten Flaggen wurde fortgerissen. Ein kräftiger Typ mit einem Banner, das den imperialen Adler zeigte, wurde zu Boden gezerrt und verschwand unter brutalen Fußtritten und Schlägen. Eine Frau kreischte, dann riß ihre Stimme abrupt ab. Die Rufe Vive le Roi! Vive le Roi! wurden zu einem bedrohlichen Singsang, der Wände und Decke vibrieren ließ.
Rafe sah zu Maggie, die schweigend hinabblickte. Sie verhielt sich absolut reglos, nur ihre zusammengepreßten Lippen verrieten eine innere Teilnahme. Während er ihr ruhiges Profil musterte, schoß ihm plötzlich die schreckliche Vision von Maggie, die von brutalen Kerlen zu Boden gezerrt worden war, durch den Kopf. Das Bild war so lebhaft, daß die Realität des Theaters einen Augenblick verschwamm. Sie wehrte sich verzweifelt, aber die Angreifer waren zu zahlreich, und sie verschwand unter bösartigen Händen.
Diese schockierende Vorstellung erzeugte in ihm den heftigen Wunsch, Maggie aus dem Theater zu zerren, bevor die Gewalt unten ausuferte. Er packte ihren Arm und zog sie halb von ihrem Platz hoch. »Komm«, zischte er,
»wir verschwinden.«
Er schleifte sie halb zur Tür der Loge. Der Tumult er-tränkte den Klang seiner Stimme, und zuerst sträubte sie sich. Rafe wollte sie gerade von den Füßen reißen und sie hinaustragen, als sie nachgab und gehorchte.
Andere Gäste strömten nun aus den Logen, doch Rafe war schneller. Er schlang seinen Arm um ihre Taille und führte sie hastig die nächste Treppe hinab.
Auf der Hälfte der Stufen trafen sie auf zwei Kerle, die von unten heraufeilten. Die Männer blieben stehen und blickten mit funkelnden Augen auf Maggie.
Rafe hatte keine Lust, abzuwarten, ob die Männer an-greifen würden, sondern rammte einem von ihnen seine Faust in den Magen. Sein Opfer stieß einen quiekenden Laut aus und taumelte gegen seinen Kumpan.
Während die beiden noch darum kämpften, ihr Gleichgewicht zu behalten, griff Rafe nach Maggies Hand und zog sie an den beiden vorbei. Nicht länger protestierend, raffte sie ihre Röcke mit der freien Hand und lief leichtfü-
ßig neben ihm her.
Die Treppe mündete in einem verlassenen Korridor.
Der Lärm der Prügelei kam von rechts, also wandten sie sich nach links und liefen weiter, bis sie einen Nebeneingang erreichten.
Draußen sahen sie, daß Aristokraten und Bürger gleichermaßen aus dem Theater stürzten. Ein Mann rannte, nach Wachen schreiend, den Boulevard entlang. Zum Glück wartete Rafes Kutsche in der Nähe. Er schob sie hinein, und ein paar Sekunden später hatten sie das Theater hinter sich gelassen.
Maggies Röcke raschelten, als sie sich in der Ecke der Kutsche niederließ. Rafes Herz hämmerte immer noch wild. Die Bedrohung ihrer Sicherheit hatte einen primiti-ven Beschützerinstinkt in ihm geweckt, und sein Körper reagierte noch immer darauf. Impulsiv rückte er auf seinem Sitz näher und schlang die Arme um sie, um sich zu versichern, daß es ihr gut ging.
Sie schien zu erschaudern, dann wandte sie ihm sein Gesicht zu, und ihre Lippen suchten seine. Ihre Zungen berührten sich, und plötzlich küßten sie sich wild. Sie ließ ihre Hände
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