Wiedersehen mit Mrs. Oliver
könnte er viel mehr aus sich machen – er ist ein außergewöhnlich intelligenter Mensch, M. Poirot. Diese Frau hat ihn nie verstanden. Für sie ist er eine Maschine, die kostbare Kleider, Juwelen und Pelze produziert. Wenn er mit einer Frau verheiratet wäre, die seine Fähigkeiten schätzte …«
Hier unterbrach sich Miss Brewis; ihre Stimme zitterte verdächtig.
Poirot hatte großes Mitleid mit ihr. Miss Brewis war offensichtlich in ihren Arbeitgeber verliebt. Sie diente ihm treu und war ihm von ganzem Herzen ergeben; er jedoch war sich dieser Tatsache sicherlich weder bewusst, noch wäre er daran interessiert gewesen. Sir George betrachtete Amanda Brewis als eine Art Automaten, der ihm die Lasten des täglichen Lebens gewissenhaft abnahm, der Telefonate entgegennahm, Briefe schrieb, Dienstboten engagierte, Mahlzeiten bestellte und ihm das Leben so angenehm wie möglich gestaltete. Poirot bezweifelte, dass Sir George jemals auf den Gedanken kam, Miss Brewis sei eine Frau. Und das war gefährlich – denn Frauen sind imstande, sich in eine Hysterie hineinzusteigern, die dem Gegenstand ihrer Verehrung meist völlig entgeht, weil der betreffende Mann keine Ahnung von ihren Gefühlen für ihn hat.
»Eine raffinierte, gerissene, hinterhältige Schlange ist sie«, sagte Miss Brewis mit tränenerstickter Stimme.
»Ich stelle fest, dass Sie ist sagen – nicht war«, sagte Poirot.
»Natürlich ist sie nicht tot. Sie ist mit irgendeinem Kerl durchgebrannt – das würde ihr jedenfalls ähnlich sehen«, erklärte Miss Brewis verächtlich.
»Schon möglich – alles möglich«, murmelte Poirot, nahm noch eine Scheibe Toast und blickte sich auf dem Tisch um, weil er hoffte, außer der bitteren Orangenmarmelade noch eine andere Sorte vorzufinden. Da es nur Orangenmarmelade gab, begnügte er sich mit Butter.
»Das ist die einzige Erklärung«, meinte Miss Brewis, »obwohl er natürlich niemals darauf kommen würde.«
»Gab es denn irgendwelche Männergeschichten?«, fragte Poirot vorsichtig.
»Oh, sie war sehr raffiniert.«
»Meinen Sie, dass Sie ihr nicht hinter die Schliche kommen konnten?«
»Ja, dafür hat sie gesorgt.«
»Aber Sie glauben, dass sie – wie soll ich mich ausdrücken – heimliche Abenteuer hatte?«
»Sie hat sich die größte Mühe gegeben, Michael Weyman zu ihrem Sklaven zu machen. Und wahrscheinlich wäre ihr das auch gelungen, wenn er nicht anderweitig interessiert gewesen wäre.«
»Aha, er ist anderweitig interessiert«, wiederholte Poirot und bestrich sich nachdenklich die Hälfte seiner Toastscheibe mit Orangenmarmelade, nachdem er sie vorsichtig gekostet hatte.
»Mrs Legge, die ihn vor ihrer Heirat kannte, hat ihn Sir George empfohlen«, erklärte Miss Brewis. »Wie ich höre, hat sie in der Künstlergegend von Chelsea gewohnt – sie war nämlich Malerin.«
»Sie scheint eine sehr charmante und intelligente junge Dame zu sein«, meinte Poirot zögernd.
»Ja, sie ist sehr intelligent. Sie hat studiert und hätte Karriere machen können, wenn sie nicht geheiratet hätte.«
»Ist sie schon lange verheiratet?«
»Ungefähr drei Jahre. Ich glaube, es ist keine sehr gute Ehe.«
»Warum? Verstehen sie sich nicht?«
»Er ist ein merkwürdiger junger Mann – sehr launisch. Geht auf einsame Wanderungen, und ich habe selbst mal erlebt, wie er die Geduld mit seiner Frau verloren hat.«
»Streit und Versöhnung gehören zu jeder jungen Ehe«, meinte Poirot. »Sonst würde das Zusammenleben zu eintönig werden.«
»Sie ist viel mit Michael Weyman zusammen. Ich glaube, er war in sie verliebt, bevor sie Alec Legge heiratete. Für sie ist es wohl nur ein Flirt«, fügte Miss Brewis missbilligend hinzu.
»Das passt Mr Legge vermutlich nicht gerade?«
»Schwer zu sagen – er ist so unberechenbar. Aber in letzter Zeit war er womöglich noch launischer als früher.«
»Ist er vielleicht ein Verehrer von Lady Stubbs?«
»Auf jeden Fall hat sie sich das eingebildet. Sie glaubt, dass sie nur den kleinen Finger zu rühren braucht, damit ein Mann sich in sie verliebt.«
»Wenn sie, wie Sie annehmen, mit einem Mann durchgebrannt ist, kann es jedenfalls nicht Mr Weyman sein, denn der ist noch hier.«
»Es muss jemand sein, mit dem sie sich heimlich getroffen hat, davon bin ich überzeugt«, erklärte Miss Brewis. »Sie geht oft allein im Wald spazieren; vorgestern Abend zum Beispiel hat sie gegähnt und gesagt, dass sie müde sei und sich hinlegen wolle. Eine halbe Stunde später habe ich sie
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