Wielstadt-Trilogie Bd. 1 - Drachenklingen
Schmutz, und es stank fürchterlich. Eingesäumt wurde er von ärmlichen und heruntergekommenen Gebäuden, zwischen denen sich ein Gewirr finsterer, enger Gässchen wand. Mehrere hundert Bettler und Ganoven wohnten dort mit ihren Frauen und Kindern. Insgesamt waren es wohl an die tausend Menschen, und sie waren die uneingeschränkten Herrscher über ihr Gebiet. Sie ließen keine Fremden hinein, und wer es versuchte, konnte damit rechnen, mit ein paar Fußtritten, Prügeln und Beleidigungen begrüßt zu werden. 1630 hatte man versucht, eine Straße durch das Viertel zu bauen, aber die Arbeiter waren von den Bewohnern übel zugerichtet worden, und so hatte man das Vorhaben ad acta gelegt.
Die widerspenstige Gesellschaft war immer darauf bedacht, sich ihre Unabhängigkeit zu bewahren, und lebte am ›Hof der Wunder‹ nach ganz eigenen Gesetzen und Bräuchen. Ihr Oberhaupt war der ›Große Coësre‹, den Saint-Lucq an diesem Nachmittag treffen würde. Durch verschmierte Fensterscheiben im Erdgeschoss eines Hauses betrachtete er die triste und fast menschenleere Sackgasse, die sich erst nachts beleben würde, wenn die Ganoven und Bettler von ihrem Tagwerk des Stehlens und Handaufhaltens aus Paris zurückgekehrt waren. Die Szenerie hatte etwas Finsteres und Beklemmendes. Man fühlte sich heimlich beäugt, wie in Feindesland, wo man überall auf einen Hinterhalt wittern musste.
Doch das Mischblut war nicht allein.
Eine alte Frau leistete ihm Gesellschaft. Sie saß in einer Ecke, knabberte Gebäck wie ein Kaninchen, indem sie es mit den Fingern beider Hände festhielt, und starrte ins Leere. Dann war da noch Metzler, der Rohling, mit dem sich Saint-Lucq angelegt hatte. Er hatte die Hand an den Schwertknauf gelegt und stierte den Besucher finster an. Mit bedrohlichem Schweigen sorgte er dafür, dass die Atmosphäre noch unheilschwangerer wurde.
Schließlich betrat der Große Coësre hinter einem streng wirkenden Kerl mit ausgeprägter Glatze den Raum. Die abgetretene Bodenplanken und abgeschabten Wände wollten nicht recht zu der bunt zusammengewürfelten, luxuriösen Einrichtung passen, die aus den verschiedensten Villen und reichen Bürgerhäusern der Stadt geraubt worden war.
Der Große Coësre war dürr und blond und noch keine siebzehn Jahre alt. Zwar zählte man in diesem Alter während jener Epoche schon zu den Erwachsenen, doch er wirkte
dennoch zu jung, um einige der gefährlichsten und zwielichtigsten Gauner von Paris anzuführen. Aber er strahlte die Selbstsicherheit eines gefürchteten und respektierten Monarchen aus, dessen Autorität nicht in Frage gestellt werden konnte, ohne dass Schwerter klirrten und Blut floss. Auf seiner rechten Wange klaffte noch die Narbe einer schlecht versorgten Wunde, in seinen klaren Augen funkelten Zynismus und Intelligenz. Er war nicht einmal bewaffnet, denn hier in seinem Revier, wo schon ein Blick von ihm einem Todesurteil gleichkam, hatte er nichts zu befürchten.
Während es sich der Große Coësre in einem Sessel mit hoher Lehne bequem machte, der für ihn reserviert war, postierte sich zu seiner Seite der Mann, der ihm zuvor die Tür aufgehalten hatte. Saint-Lucq kannte ihn. Er nannte sich Grangier und war ›Büttel‹.
In der strengen Hierarchie des Hofes der Wunder kamen die Büttel gleich nach dem Großen Coësre und standen auf der gleichen Rangebene wie die ›Kassiere‹, zu deren Aufgaben es gehörte, das Geld der Bettler- und Diebestruppen einzutreiben und die Neulinge in der Kunst des Taschendiebstahls und des Mitleidheischens zu unterweisen. Die Büttel waren oft recht gebildete Berater. Als ehemaliger Priester verdankte es Grangier seinem zweifelhaften Scharfsinn, dass er das uneingeschränkte Vertrauen seines Herrn genoss.
Saint-Lucq verbeugte sich, zog aber nicht den Hut.
»Man muss dir zugute halten, dass es dir nicht an Mut gebricht«, sagte der Große Coësre ohne Umschweife. »Wenn du es nicht wärst, würde ich glauben, ich hätte es mit einem Verrückten zu tun.«
Das Mischblut schwieg.
»Dass du dich hier blicken lässt, nachdem du zwei meiner
Männer übel zugerichtet hast und sogar gedroht hast, den armen Metzler abzustechen …«
»Ich habe lediglich sicherstellen wollen, dass er auch nicht versäumt, dir meine Nachricht zu übermitteln.«
»Dir ist hoffentlich klar, dass er an nichts anderes mehr denkt, als dich zu massakrieren.«
»Das lässt mich kalt.«
Metzler zitterte vor Wut und brannte darauf, das Schwert zu ziehen. Sein
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