Wilsberg 15 - Wilsberg und die Malerin
schuldig, obwohl es dafür nicht den geringsten Grund gibt.« Sie holte Luft. »Einmal, ich stand unter der Dusche, kam er ins Badezimmer. Er zog den Duschvorhang zurück und betrachtete meinen nackten Körper mit einem lüsternen Grinsen. Da bin ich ausgerastet. Ich habe ihn angeschrien, er solle verschwinden. Wenn er mir noch einmal zu nahe käme, würde ich zur Polizei gehen und ihn anzeigen.«
»Und wie hat er reagiert?«, fragte ich.
»Von dem Tag an war Ruhe. Er hat mich fortan ignoriert. Aber ...« Die Finger, mit denen sie ihr Gesicht rieb, hinterließen rote Striemen. »... ich weiß nicht, wie es Lena ergangen ist.«
»Sie glauben ...«
»Ich habe in jenem Sommer nicht daran gedacht. Ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt, vielleicht auch zu naiv, um zu glauben, dass sich ein erwachsener Mann an ein elfjähriges Mädchen heranmachen könnte. Es gab keine Beweise, ich habe nichts gehört oder gesehen. Andererseits war Manfred gewarnt. Er wusste, dass er sehr vorsichtig sein musste. Lena und ich schliefen in getrennten Zimmern. Und die Türen waren nie verschlossen.«
Ich dachte daran, wie Lena sich nach einem Schlüssel für Sarahs Zimmer erkundigt hatte.
»Tatsache ist«, fuhr Nora fort, »dass Lena nach diesem Sommer eine andere war. Später, als ich richtig begriff, dass dieser nette Onkel sich nicht einfach nur danebenbenommen hatte, sondern eine echte Gefahr darstellte, habe ich Lena gefragt. Das heißt, ich habe es versucht, sie hat abgeblockt und behauptet, es sei nichts vorgefallen. Mag sein, dass ich mich irre, doch mein Gefühl sagte mir, dass sie lügt.«
»Es würde erklären, warum sie sich so gegen ihre Familie sträubt.«
Nora nickte. »Es würde vieles erklären.«
»Haben Sie mit Ihrem Vater über den Verdacht geredet?«
»Ja. Allerdings hat er genauso abgewiegelt wie Lena. An der Sache sei nichts dran, ich sei ein Opfer meiner überreizten Fantasie, Ines hätte das auf jeden Fall verhindert. Was zunächst plausibel klingt, einer näheren Betrachtung aber nicht standhält. Ines muss bemerkt haben, dass Manfred mich belästigt hat. Und sie hat nichts unternommen, um mir zu helfen.«
Sie schwieg einen Moment. »Ich dachte, Sie sollten das wissen. Es ist der eigentliche Grund, warum ich mich für Lena verantwortlich fühle.«
»Wenn Ihr Onkel das, was Sie vermuten, getan hat, trägt er allein die Schuld.«
»Ich hätte es verhindern können.«
»Seien Sie nicht zu hart mit sich selbst – Sie waren vierzehn.«
Sie lächelte bitter. »Das ist allein meine Sache, oder nicht?«
Nun war die Reihe an mir, die Wahrheit zu sagen: »Ich habe Ihnen auch noch nicht alles erzählt.«
»Geht es um etwas, was mit Lenas Verschwinden zusammenhängt?«
»Vielleicht. Bislang sind es reine Vermutungen.«
»Und warum sagen Sie das erst jetzt?«
»Es könnte in die völlig falsche Richtung führen.«
Auf ihrer Stirn schwoll eine Zornesader. »Ich will alles wissen. Dafür bezahle ich Sie – stimmt's?«
Also berichtete ich ihr, was ich erlebt und herausgefunden hatte, bis hin zu Gottfried Guber.
Nora war verblüfft. »Denken Sie, die beiden Männer waren hinter Lena her?«
»Oder hinter etwas, was sie bei sich hatte.«
»Was sie in Ihrer Wohnung zurückgelassen haben könnte?«
»Das würde erklären, warum die Männer bei mir eindringen wollten.« Oder bereits eingedrungen sind, fügte ich in Gedanken hinzu. Falls das braune Haar auf meiner Diskettenbox von einem der beiden Männer stammte.
»Was könnte das sein?«, fragte Nora.
»Ich hatte gehofft, Sie würden mir bei der Beantwortung dieser Frage helfen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung.«
»Wäre es möglich«, formulierte ich eine Idee, die mir in den letzten Stunden gekommen war, »dass Lena noch etwas anderes gestohlen hat außer dem Bild?«
»Und was?«
»Vertrauliche Unterlagen, die sich im Arbeitszimmer Ihres Vaters befunden haben, zum Beispiel die Bankgeschäfte betreffend.«
»Das hätte Papa doch gesagt.«
»Nicht wenn er verhindern will, dass das Verschwinden des Materials bekannt wird.«
Sie schaute mich fassungslos an. »Das glaube ich nicht.«
»Er hat über zwanzigtausend Euro dafür bezahlt, dass er das Porträt Walter Eglis zurückbekommt«, erinnerte ich sie. »Und als ich ihm das Bild gebracht habe, hat er es nicht einmal angeschaut.«
»Er hat es für Lena getan.«
»Oder dafür, dass sie das, was sie noch besitzt, nicht verkauft.«
Eine Kellnerin trat an unseren Tisch.
Weitere Kostenlose Bücher