Winter der Zärtlichkeit
Kind. Und du warst noch so jung. Ich konnte nicht einfach in dein Leben spazieren und sagen: ,Hallo, ich bin deine Mutter. Ich hatte noch immer Angst davor, was Hank dann tun würde. Außerdem war es schwer, mein Leben nach dem Unfall wieder in den Griff zu bekommen. Meg verbrachte die meiste Zeit mit ihren Kindermädchen, und ich musste die Geschäfte dem Vorstand überlassen, weil ich mich auf nichts längere Zeit konzentrieren konnte. Wie hätte ich dich aus dem einzigen Heim zerren können, das du kanntest, nur um dich in die Hände von Fremden zu geben?“
Lange saß Sierra reglos da. „Okay“, sagte sie endlich. „Das kaufe ich dir alles ab. Aber es besteht immer noch eine ziemlich große Zeitspanne zwischen damals und vor sechs Wochen, als du endlich Kontakt zu mir auf genommen hast.“
Eve schwieg.
Es stimmt also, dachte Sierra bitter, da ist noch mehr.
„Ich habe mich geschämt“, gestand Eve.
»Geschämt?“
Stille.
„Eve?“
„Nach dem Unfall“, fuhr Eve so leise fort, dass Sierra sich vorlehnen musste, um sie zu verstehen, „habe ich viele Schmerztabletten genommen. Sie halfen mir immer weniger, während die Schmerzen immer schlimmer wurden. Also habe ich angefangen, sie mit Alkohol runterzuspülen.“
Sierras Mund klappte auf. „Meg hat nie ..."
„Natürlich nicht. Dir das zu erzählen ist meine Aufgabe, davon abgesehen schreibt man so etwas nicht einfach mal eben in einer E-Mail. Was hätte sie denn schreiben sollen? Oh, übrigens, Mutter ist tabletten- und alkoholabhängig?“
„Mein Gott“, wisperte Sierra.
„In Abständen war ich clean, aber nach einiger Zeit ging es immer wieder los. Wenn Rance nicht für mich eingesprungen wäre, hätte ich vermutlich ganz McKettrickCo in Grund und Boden gewirtschaftet.“
„Rance?“
„Dein Cousin.“
Weil sie beide es dringend brauchten, versuchte Sierra, etwas Leichtigkeit in das Gespräch zu bringen. „Aus welchem Teil der Familie ist er denn herausgekrochen?“
Eve lächelte schwach, aber so dankbar, dass Sierras Herz sich zusammenzog. „Rance stammt von Rafe und Emmeline ab. Rafe wiederum war ein Sohn vom alten Angus.“
„Du hast all die Jahre gebraucht, um dein Leben wieder in Ordnung zu bringen?“, fragte Sierra vorsichtig.
„Nein.“ Eves Wangen röteten sich. „Nein, ich bin jetzt seit zehn Jahren clean. Aber, wie ich schon sagte, Sierra, ich habe mich geschämt. So viel Zeit war vergangen, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wo beginnen. Das wurde zu einem Teufelskreis. Je länger ich es vor mir herschob, desto schwerer war es, das Risiko einzugehen.“
„Aber schließlich hast du mich doch wieder aufgespürt. Was hatte sich verändert?“
„Ich musste dich nicht aufspüren. Ich wusste immer, wo du warst.“ Eve seufzte, ihre Schultern sanken etwas herab. „Ich habe von Liams Asthma erfahren, und da konnte ich nicht mehr länger warten.“ Einen Moment hielt sie inne, dann richtete sie sich wieder auf. „Fair ist fair, Sierra, ich habe dir die schwierigen Fragen beantwortet, auch wenn mir klar ist, dass du noch mehr hast. Aber jetzt bist du dran. Warum bist du dein Leben lang von einer Stadt in die andere gezogen und hast als Bedienung gearbeitet, anstatt irgendwo Wurzeln zu schlagen und etwas aus deinem Leben zu machen?“
Zwar hatte Sierra ab und zu Abendkurse besucht, ihr fließendes Spanisch genutzt, um mit Gästen zu sprechen, und wenn es ging, freiwillig in manchen von Liams Schulen ausgeholfen. Aber es hatte sie nie gereizt, an einem Ort zu bleiben, und die einzige Richtung, die sie immer wieder eingeschlagen hatte, hieß „weg“.
„Es ist nicht verwerflich, als Bedienung zu arbeiten.“ Sie versuchte, nicht gekränkt zu klingen, was ihr nicht allzu gut gelang.
„Natürlich nicht“, stimmte Eve ihr sofort zu. „Aber warum hast du kein College besucht?“
„Ein Tag hat nur vierundzwanzig Stunden, Eve. Und ich musste ein Kind großziehen.“
Eve nickte nachdenklich. Und wartete.
Sierra wartete ebenfalls.
„Das erklärt aber nicht, warum du so oft umgezogen bist“, gab Eve zu bedenken.
„Ich wünschte, ich hätte darauf eine einfache Antwort“, erwiderte Sierra nach langem Überlegen. „Ich schätze, da war einfach immer eine unterschwellige Unruhe in mir, als ob ich ständig davonlaufen müsste.“
Wieder schwieg Eve.
„Warum hast du dich von meinem Vater scheiden lassen?“, fragte Sierra. Die Frage hatte sie sich oft gestellt, doch immer zur Seite geschoben, indem sie
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