Wintersturm
gebannt auf das Bild von Ray Eldredges Frau starrten.
Im ersten Augenblick der Erleuchtung hatte sich Jonathan mit zwei bitteren, aber unbestreitbaren Tatsachen abzufinden: Dorothy hatte ihn bewußt angelogen, als sie behauptete, sie habe Nancy als Kind in Virginia gekannt; und er selbst, im Ruhestand oder nicht, hätte genügend Jurist sein müssen, um sich auf sein Gespür zu verlassen. Im Unterbewußtsein hatte er doch immer schon den Verdacht gehabt, daß Nancy Harmon und Nancy Eldredge ein und dieselbe Person waren.
7
Es war so kalt. In ihrem Mund spürte und schmeckte sie Sand.
Sand – wieso? Wo war sie?
Sie hörte, wie Ray nach ihr rief, fühlte, wie er sich über sie beugte, sie an sich zog. »Nancy, was ist denn passiert? Nancy, wo sind die Kinder?«
Sie hörte die Angst in seiner Stimme. Sie versuchte die Hand zu heben, spürte dann, wie sie ihr schlapp zur Seite herunterfiel. Sie versuchte zu sprechen, aber ihr kam kein Wort über die Lippen. Ray war da, aber sie konnte ihn nicht erreichen.
Sie hörte, wie Dorothy sagte: »Heben Sie sie auf, Ray.
Bringen Sie sie ins Haus. Wir brauchen Hilfe, um die Kinder zu suchen.«
Die Kinder. Sie müssen sie finden. Nancy wollte Ray bitten, nach ihnen zu suchen. Sie spürte, wie ihre Lippen versuchten, Worte zu formen, aber sie brachte kein Wort heraus.
»Oh, mein Gott!« Sie hörte, wie Rays Stimme umschlug. Sie wollte sagen: »Kümmert euch nicht um mich; kümmert euch nicht um mich. Sucht die Kinder.« Aber sie konnte nicht sprechen. Sie spürte, wie er sie hochhob und an sich drückte.
»Was ist mit ihr los, Dorothy?« fragte er. »Was ist mit ihr geschehen?«
»Ray, wir müssen die Polizei verständigen.«
»Die Polizei!« Ganz schwach hörte Nancy den Widerstand in seiner Stimme.
»Selbstverständlich. Wir brauchen Hilfe, um die Kinder zu suchen. Ray, beeilen Sie sich. Jeder Augenblick ist kostbar.
Begreifen Sie das nicht? Sie können Nancy jetzt nicht heraushalten. Auf dem einen Bild erkennt sie sowieso jeder.«
Das Bild. Nancy spürte, daß sie getragen wurde. Ganz von fern merkte sie, daß sie zitterte. Aber das war es gar nicht, worüber sie nachdenken mußte. Es war das Bild von ihr in dem Tweedkostüm, das sie sich gekauft hatte, nachdem das Urteil aufgehoben worden war. Man hatte sie aus dem Gefängnis geholt und ins Gerichtsgebäude gebracht. Der Staatsanwalt hatte sie nicht wieder verhört. Carl war tot, und der Student, der gegen sie ausgesagt hatte, war verschwunden. Deshalb war sie freigelassen worden.
Der Anklagevertreter hatte zu ihr gesagt: »Glauben Sie ja nicht, daß jetzt alles für Sie vorbei ist. Und wenn ich den Rest meines Lebens damit zubringen müßte, – ich werde Mittel und Wege zu einem Schuldspruch finden, der unumstößlich ist.«
Während diese Worte noch auf sie einhämmerten, hatte sie den Gerichtssaal verlassen.
Nach einiger Zeit, als sie die Genehmigung erhalten hatte, den Staat zu verlassen, hatte sie sich das Haar kurzgeschnitten und gefärbt und war einkaufen gegangen. Die Kleider, die sie auf Carls Wunsch getragen hatte, waren ihr immer zuwider gewesen, und sie hatte sich ein dreiteiliges Kostüm mit einem braunen Rollkragenpullover gekauft. Sie trug die Jacke noch immer und lockere Hosen dazu; sie hatte sie erst in der vergangenen Woche beim Einkaufen angehabt. Das war ein weiterer Grund, weshalb sie auf dem Bild so leicht zu erkennen war. Das Bild… es war am Autobusbahnhof gemacht worden; dort war es gewesen.
Es war ihr nicht aufgefallen, daß jemand ein Foto von ihr gemacht hatte. Sie war mit dem letzten Abendbus nach Boston gefahren. Am Busbahnhof waren nicht sehr viele Leute gewesen, und niemand hatte ihr besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Sie hatte geglaubt, sie könnte sich heimlich davonmachen und dann versuchen, ein neues Leben zu beginnen. Aber jemand hatte die ganze Zeit über nur darauf gewartet, die ganze Geschichte wieder in Gang zu bringen.
Ich möchte sterben, dachte sie. Ich möchte sterben.
Ray machte große Schritte. Gleichzeitig versuchte er, sie mit seiner Jacke abzuschirmen. Der Wind biß durch ihre nassen Sachen hindurch. Er konnte sie nicht abschirmen; nicht einmal er konnte sie abschirmen. Es war zu spät… Vielleicht war es schon immer zu spät gewesen. Peter und Lisa und Michael und Missy. Alle waren verschwunden… Es war zu spät für sie alle.
Nein, nein, nein. Michael und Missy. Sie waren doch eben noch hier gewesen. Sie hatten gespielt. Sie waren draußen auf der
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