Wintersturm
»Wer sind Sie?« wollte er wissen. Er rieb sich die Augen, schüttelte den Kopf und schaute in die Runde.
»Wo sind wir?«
Ein Kind, das sich auszudrücken wußte… das die richtigen Worte fand… seine Stimme klar und mit einem angenehmen Tonfall. Das war gut so. Gut erzogene Kinder ließen sich leichter lenken. Machten keine Umstände. Wenn ihnen beigebracht war, daß sie älteren Leuten Respekt entgegenzubringen hatten, waren sie meistens sehr gefügig.
Wie die beiden anderen. Sie waren an jenem Tag so bereitwillig mit ihm gegangen. Als er ihnen erklärt hatte, daß sie Mami einen lustigen Streich spielen wollten, hatten sie sich in den Kofferraum des Autos gekniet, ohne zu fragen.
»Es ist ein Spiel«, sagte er zu Michael. »Ich bin ein alter Freund von deiner Mami, und sie möchte ein Geburtstagsspiel spielen. Wußtet ihr, daß sie heute Geburtstag hat?« Während er sprach, tätschelte er das kleine Mädchen. Sie fühlte sich so angenehm weich an.
Der Junge schien sich noch nicht ganz sicher zu sein.
»Ich mag dieses Spiel nicht«, sagte er fest. Schwankend stand er auf. Er stieß die Hände zur Seite, die auf Missy lagen, und streckte die Arme nach ihr aus. Sie klammerte sich an ihn.
»Nicht weinen, Missy«, sagte er beruhigend. »Es ist nur ein dummes Spiel. Wir gehen jetzt nach Hause.«
Es war deutlich zu erkennen, daß man ihn nicht so leicht täuschen konnte. Der Junge hatte den offenen Gesichtsausdruck von Ray Eldredge. »Wir machen Ihre Spiele nicht mit«, sagte. »Wir möchte nach Hause gehen.«
Es gab eine wunderbare Möglichkeit, wie er den kleinen Jungen dazu bringen konnte, mitzumachen. »Laß deine Schwester los«, befahl er. »Hier, gib sie her.« Er zerrte sie von dem Jungen weg. Mit der anderen Hand faßte er Michael am Handgelenk und zog ihn zum Fenster hinüber. »Weißt du, was ein Teleskop ist?«
Michael nickte ein wenig unsicher. »Ja. Es ist so etwas wie das Fernglas, das mein Vater hat. Es macht alles größer.«
»Ganz richtig. Du bist ein kluger Junge. Jetzt schau mal hier durch.« Der Junge legte sein Auge ans Okular. »Jetzt sag mir, was du siehst… Nein, kneif das andere Auge zusammen.«
»Es guckt auf mein Haus.«
»Was siehst du da?«
»Da sind viele Autos… Polizeiautos. Was ist passiert?« Seine Stimme zitterte vor Angst.
Er blickte glücklich auf das verängstigte Gesicht hinab. Vom Fenster kam ein schwaches Kling-kling herüber. Es fing an zu graupeln. Der Wind fegte harte kleine Kügelchen gegen die Glasscheiben. Die Sicht würde bald sehr schlecht sein. Sogar mit dem Teleskop würde es kaum möglich sein, allzuviel zu sehen. Aber er konnte sich ja mit den Kindern amüsieren – den ganzen, langen Nachmittag. Und er wußte auch, wie er den Jungen dazu bringen konnte, zu gehorchen. »Weißt du, wie das ist, wenn man tot ist?« fragte er.
»Das bedeutet, daß man in den Himmel kommt«, erwiderte Michael.
Er nickte beifällig. »Das ist richtig. Und heute morgen ist deine Mutter in den Himmel gekommen. Das ist der Grund, weshalb die Polizeiautos da stehen. Dein Papi hat mich gebeten, eine Zeitlang auf euch aufzupassen. Er sagte, daß du schön artig sein mußt und mir helfen sollst, auf deine Schwester aufzupassen.«
Michael sah so aus, als wollte er auch anfangen zu weinen.
Mit bebenden Lippen sagte er: »Wenn meine Mutter im Himmel ist, will ich auch dahin.«
Er ließ seine Finger durch Michaels Haar gleiten, während er die noch immer wimmernde Missy auf seinem Schoß hin und her schaukelte. »Das kannst du auch«, sagte er zu ihm. »Heute abend. Ich verspreche es.«
9
Am Mittag tickten die ersten Berichte über die Fernschreiber, früh genug, daß die Radiosender im ganzen Land es noch in ihre Nachrichtensendungen aufnehmen konnten. Sofort stürzten sich Nachrichtenredakteure darauf, die nach einer richtigen Story hungerten. Sie schickten Leute zum Recherchieren aus, die in die Archive hasteten und nach Berichten über den Mordprozeß Nancy Harmon suchten.
Verleger charterten Flugzeuge, um ihre besten Kriminalreporter nach Cape Cod zu schicken.
Als die Meldung in San Francisco durchkam, hörten zwei Stellvertretende Bezirksstaatsanwälte aufmerksam zu. Der eine sagte zu dem anderen: »Habe ich nicht immer gesagt, daß dieses Weibsstück so schuldig ist, als hätte ich selbst gesehen, wie sie die Kleinen umgebracht hat. Habe ich das nicht gesagt?
So wahr mir Gott helfe, wenn man die jetzt nicht damit rankriegt, dann nehme ich Urlaub und suche
Weitere Kostenlose Bücher