Winterträume
Wade, Harriet Cary, all die Mädchen, die er um die Mittagszeit die Jackson Street hatte entlangschlendern sehen, waren nun, gelockt, pomadisiert und für die Deckenlichter zart geschminkt, wundersam fremde Meißener Porzellanfiguren in Pink, Blau, Rot und Gold, frisch aus der Werkstatt und noch nicht ganz getrocknet.
Er war seit einer halben Stunde da, und es heiterte ihn kein bisschen auf, dass Clark alle naselang gutgelaunt vorbeischaute, jedes Mal »Na, alter Junge, wie schlägst du dich hier?« sagte und ihm einen Klaps aufs Knie gab. Ein Dutzend Männer hatten ihn angesprochen oder einen Moment bei ihm verweilt, doch er wusste, dass sie sich alle wunderten, ihn hier zu sehen, und der eine oder andere schien es ihm sogar ein wenig übelzunehmen. Um halb elf aber fiel plötzlich alle Befangenheit von ihm ab, und er geriet, von atemloser Spannung gepackt, ganz außer sich – Nancy Lamar war aus der Garderobe gekommen.
Sie erschien in gelbem Organdy, einem Kleid aus hundert kühlen Winkeln, mit drei Lagen Rüschen und einer großen Schleife im Rücken, so dass sie Schwarz und Gelb in einer Art phosphoreszierendem Schimmer um sich versprühte. Jelly-bean riss die Augen auf, und in seinem Hals wuchs ein Kloß. Eine Minute lang stand Nancy in der Tür, bis ihr Galan herbeieilte. Jim erkannte in ihm den Fremden wieder, der am Nachmittag mit ihr in Joe Ewings Wagen gesessen hatte. Er sah, wie sie die Arme in die Seiten stemmte und leise etwas zu ihm sagte und lachte. Der Mann lachte auch, und Jim verspürte plötzlich einen Stich, einen seltsamen, neuartigen Schmerz. Ein Lichtstreif war zwischen den beiden hindurchgegangen, ein Schönheitsstrahl von jener Sonne, die ihn einen Augenblick vorher noch gewärmt hatte. Jelly-bean fühlte sich auf einmal wie ein Büschel Unkraut im Schatten.
Kurz darauf trat Clark mit blitzenden Augen und glühenden Wangen zu ihm ans Sofa. »Na, alter Freund«, rief er nicht allzu originell, »wie schlägst du dich hier?«
Jim antwortete, er schlage sich so gut, wie man es erwarten könne.
»Dann komm jetzt mal mit«, befahl Clark, »ich hab da was, das den Abend ein bisschen anheizen wird.«
Jim folgte ihm hölzern erst über die Tanzfläche, dann die Treppe hinauf zur Garderobe, wo Clark eine Flasche namenloser gelber Flüssigkeit zutage förderte. »Guter alter Whiskey.«
Auf einem Tablett wurde Ginger Ale gebracht. Ein so starker Nektar wie »guter alter Whiskey« musste mit etwas anderem als Selterwasser getarnt werden.
»Nun sag doch mal, Junge«, rief Clark atemlos, »sieht Nancy Lamar nicht wunderhübsch aus?«
Jim nickte. »Wirklich wunderhübsch«, stimmte er zu.
»Sie hat sich so rausgeputzt, weil sie sich heute Abend von jemandem verabschieden muss«, fuhr Clark fort. »Hast du den Kerl mit dem weißen Hemd gesehen?«
»Groß? Weiße Hose?«
»Genau. Das ist Ogden Merritt aus Savannah. Sein alter Herr stellt diese Merritt-Rasierhobel her. Ogden ist verrückt nach ihr. Ist schon das ganze Jahr hinter ihr her. Sie ist ein richtiger Wildfang, aber ich mag sie. Alle mögen sie. Obwohl sie schon tolle Dinger dreht. Meist kommt sie ja mit heiler Haut davon, bloß ihr Ruf, der hat schon lauter Narben von allem, was sie so angestellt hat.«
»Ach ja?« Jim hielt ihm sein Glas hin. »Das ist guter Whiskey.«
»Nicht übel. O ja, sie treibt’s richtig wild. Wie sie Craps spielt, ich sag’s dir, Mann! Und einen Highball trinkt sie auch ganz gern mal. Hab versprochen, ihr später einen zu geben.«
»Ist sie in diesen – Merritt verliebt?«
»Keine Ahnung. Scheint so, als ob die besten Mädchen hier alle heiraten und weggehen.«
Er goss sich noch einen Drink ein, bevor er die Flasche sorgfältig zukorkte.
»Pass mal auf, Jim, ich muss jetzt tanzen gehen, und ich wär dir dankbar, wenn du dir den Whiskey hier in die Tasche stecken würdest, solange du nicht tanzt. Wenn die anderen spitzkriegen, dass ich was getrunken habe, kommen sie nämlich sofort an und wollen auch was, und ruck, zuck ist alles weg, und jemand anders amüsiert sich an meiner Stelle.«
Nancy Lamar würde also heiraten. Dieser Stern einer ganzen Stadt würde zum Privateigentum einer Gestalt in weißen Hosen werden – und das nur, weil der Vater der weißen Hosen einen besseren Rasierer hergestellt hatte als sein Nachbar. Als sie die Treppe hinuntergingen, fand Jim diesen Gedanken unerklärlich bedrückend. Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er eine vage, romantische Sehnsucht. In seiner Phantasie
Weitere Kostenlose Bücher