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Wir hatten mal ein Kind

Wir hatten mal ein Kind

Titel: Wir hatten mal ein Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
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Gäntschows den Herrn Pastor zu einer Hochzeit nach Pattchow fahren müßten, denn sie seien dran. Um Punkt zwei hielt der große Gäntschowsche Landauer mit zwei großen kräftigen Pferden vor der Superintendantur, und auf dem Bock saß ein großer, starker Mann als Kutscher, in einem langen, blauen Frack mit blanken Knöpfen, mit einem blauen Zylinder, mit einem langen, flachsenen Vollbart bis zum unteren Rockknopf. Unpünktlich und eilig kam Vikar Oldörp aus dem Haus geschossen und in den Wagen herein. Und während er noch auf den Rücksitz sank, rief er laut mit seiner hellen, etwas kreischenden Stimme: Fahren Sie zu, Kutscher. Um drei müssen wir in Pattchow sein!
    Der Kutscher aber stieg erst noch einmal steifbeinig vom Bock herab und machte sich noch was an der Kutschentür zu schaffen, und der Vikar sagte sehr ungeduldig: Nun machen Sie schon zu. Was ist denn mit der Tür? – Übrigens hätten Sie den Wagen auch gut schließen können. Es ist Oktober und kalt.
    Aber ohne ein Wort stieg der Kutscher wieder auf seinen Bock, und nun fuhr der Wagen in schlankem Trabe durch Kirchdorf, und wenn Leute ihm an diesem regnerischen, kalten Sonntagnachmittag nachsahen, so wunderten sie sich vielleicht, daß ihr Vikar in einem Wagen mit Türen fuhr, die mit derben Stricken zugebunden waren.
    Sie aber waren schon aus dem Dorf und fuhren immer rascher die Landstraße nach Pattchow entlang, und der Vikar sah ein bißchen müde und schläfrig von dem guten Mittagessen auf die von herbstlicher Nässe triefenden Felder.
    Plötzlich fuhr er erschrocken hoch. Sein Kutscher hatte ein |463| wüstes Hoiho! ausgestoßen. Der Wagen bekam erst vorne einen fürchterlichen Stoß, und der Vikar schoß mit dem Kopf gegen die Vorderwand, dann nach hinten. Und der Vikar fiel wieder zurück. Nun merkte er, wie das Gefährt in immer rascherem Tempo über Felder raste, während der Kutscher wild mit der Peitsche fuchtelte und laute, anfeuernde Rufe ausstieß. Sie waren aber schlankweg von der Chaussee durch einen tiefen Graben gefahren. Der Wagen fuhr immer schneller, immer wilder. Er tanzte auf dem scholligen Acker wie ein Schiff auf hoher See. Er stieß gegen Steine, seine Räder prallten und stöhnten. Der Vikar hielt sich hier und dort fest, fiel aus dieser Ecke in jene, landete auf dem Boden, krabbelte wieder hoch, rüttelte an den Türen – und immer sah er vor und über sich den breiten, langen, blauen Rücken, hörte die Peitsche knallen und klatschen und die wilden Schreie …
    Er war sich klar, daß ein Wahnsinniger, ein Verrückter ihn fuhr. Er versuchte, ihn anzusprechen. Aber irgendein Stoß erstickte ihm das Wort in der Kehle.
    Doch plötzlich wandte sich der Kutscher zu ihm um, grinste mit einem scheußlich verzerrten Gesicht, deutete mit der Peitsche nach vorne und schrie: Gleich ist es alle, Pfaffe, gleich stirbst du!
    Und mit einem wilden Hoiho! wandte er sich wieder zu seinen Pferden.
    Der Vikar sah nach vorne und erstarrte. Denn hinter dem Lande tauchte dort die See auf. Die graue, trübe Oktobersee mit den hohen Wellen und weißen Wogenkämmen. Eiliger, grausamer pfiff der Oktoberwind – aber das Schlimmste war, er wußte ja, es ging hier fünfzehn, zwanzig Meter steil zur See ab – er war verloren!
    Er fing an zu schreien und zu flehen, er trommelte mit seinen schwachen, ohnmächtigen Fäusten gegen den blauen Rücken, er riß an den Türen, er kletterte auf den Sitz, er erwog sinkenden Herzens einen Sprung und zögerte und schrie wieder, versprach alles, was er hatte … mehr, als er hatte, goldene Berge.
    |464| Wunderlich ging es dem wilden Gäntschow auf dem Bock. Es hatte eine Strafe sein sollen und ein Witz, durch den man den Pfaffen im ganzen Lande lächerlich machte. Aber wie die Pferde so dahinjagten, wie er das feige Gewimmer hinten im Wagen hörte, wie er merkte, daß der Vikar nie, nie den Sprung aus dem Wagen wagen würde, fast ungefährlich bei dem weichen Ackerboden – da war eine Wut in ihm hochgekommen gegen solch feiges Gezücht, das mutig und großsprecherisch und mörderisch aus dem sicheren Verhau der Lebensstellung heraus war, und das sofort in sich zusammensackte, wenn es auf sich selbst gestellt wurde, wenn es zeigen sollte, welcher Kern in ihm saß.
    Vernichten, dachte er. Totquetschen, dachte er.
    Und der braune, fahle Lehmrand der Steilküste kam näher und näher – er hatte ja nie die Absicht gehabt, die Todesfahrt dort hinunter zu machen, er hatte ihn nur erschrecken wollen, den

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