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Wir hatten mal ein Kind

Wir hatten mal ein Kind

Titel: Wir hatten mal ein Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
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Feigling. Doch näher und näher kam der Rand, eine zauberische verführerische Gewalt lag in dem Absturz, den er noch nicht sah, aber kannte, eine tiefe, namenlose Trauer erfüllte sein Herz. Welt voller Feiglinge, unwert darin zu leben, Welt voller Schmutz und Lüge, die auch mich zu Schmutz und Lüge zwingt, denn ich liebe sie ja …
    Mit der Peitsche und den Zügeln trieb er die Pferde an. Stille jetzt …
    Und da kam der Rand. Er sah einen dicken Wacholderbusch. Nun schnellten die Pferde zurück, aber zu spät, zu spät. Unten war der steinige Strand. Der schwere Wagen drückte nach, er schloß die Augen, ließ die Zügel fahren, klammerte sich an den Sitz …
    Er hatte einen klaren Gedanken: ich darf nicht früher herausfallen als der. Ich darf nicht mit dem Leben davonkommen, wenn er …
    Ein Hexensabbat von Lauten schien in einer atemlosen Stille zu tönen …: Das Brausen des Windes, das angstvolle Keuchen und Stöhnen der Pferde, das starke Geräusch der Wogen, knirschender Sand, rollende, dumpf aufschlagende |465| Steine, helles Eisengeklirr … aber aus dem Wagen kein Laut mehr.
    Es war sehr schwarz, und alle Quälerei im ganzen Leben war umsonst gewesen: jeder stirbt allein, und allein zu sterben ist bitter. Ach, der Wagen, der Wagen! Er schwebte, er fiel, er jagte, er rutschte, er stieß gegen die Steine – und die Zeit stand still, die Zeit stand still, stand endlos lange still …
    Plötzlich schlug ein Schwall Wasser gegen sein Gesicht. Das Brausen war auf allen Seiten um ihn. Er öffnete die Augen. Die rechte Vorderwand des Wagens bekam einen fürchterlichen Schlag, es krachte und splitterte, er flog in einem Bogen fort, sah Wasser vor sich, machte unwillkürlich drei oder vier Schwimmstöße, sprudelte und spuckte, fühlte Grund, stand …
    Da war der Wagen, schief geneigt, die Wellen spülten um den Kutschentritt, die Pferde standen mit zerrissenem Geschirr aufgeregt zitternd davor, und die Wellen brachen sich an ihrer Brust. Plötzlich erinnerte er sich des Vikars. In den letzten Sekunden hatte er ihn völlig vergessen. Er lief, so rasch er konnte, zum Landauer. Da saß der Mann in einer Wagenecke, mit wachsgelbem Gesicht, geschlossenen Augen.
    Herr Oldörp, rief Gäntschow, Herr Oldörp.
    Der Vikar schlug die Augen auf und sah ihn voll an.
    Herr Oldörp, sagte Gäntschow und löste den Strick von der Wagentür, ich fürchte, ich werde Sie nicht weiter nach Pattchow fahren können. Mein Wagen ist nicht mehr ganz in Ordnung.
    Herr Gäntschow, sagte der Vikar Oldörp. So. Herr Gäntschow.
    Er schloß wieder die Augen und blieb ruhig in seiner Wagenecke sitzen. Aber er sah nicht mehr so aus, als hätte er irgendwelche Angst. Gäntschow stand im Wasser. Er war sich ganz unsicher, was er mit diesem veränderten Mann anzufangen habe.
    Der Vikar machte wieder die Augen auf: Sie dürfen vollkommen sicher sein, Herr Gäntschow, daß ich nie wieder ein |466| Wort über Sie oder Frau Wendland sprechen werde. Denn das ist mir jetzt klargeworden, daß ich Unrecht getan habe. Ich bitte Sie um Verzeihung, Herr Gäntschow.
    Gäntschow verzog das Gesicht.
    Nun gut, Sie mögen so etwas nicht hören. Ich verstehe. Sie sind nicht für Verzeihung und Vergebung der Sünden. Sie sind für Strafe und Sühne. Aber, Herr Gäntschow, Sie sind mir heute ein sehr grausamer Richter gewesen, und vielleicht nicht nur heute bei mir. Gebe es Ihnen Gott, daß Sie nicht auch einmal so grausam gerichtet werden. Wir bedürfen alle der Vergebung und der Gnade.
    Zweifelsohne, sagte Gäntschow höflich. Er wußte sich nicht zu helfen. Ein unwiderstehlicher Lachreiz quälte ihn. Da hatte er eben noch um sein Leben gekämpft, war halb gestorben und wieder auferstanden, da stand er bis zu den Hüften im kalten Wasser, und der Herr Vikar saß in der Ostsee in einem zerbrochenen Landauer. Und dieser Mensch benutzte den ersten neuen Atem, um ihm eine neue Predigt zu halten …
    Rettungslos, aussichtslos, ein verkorkstes Geschlecht. Buttermilch statt Blut. Gefasel statt Gefühl. Redensarten statt Gehirn … Vielleicht darf ich Sie ans Land tragen, Herr Oldörp, schlug er vor, Sie würden sonst nämlich naß.
    Ich wäre Ihnen dankbar, sagte der Vikar.
    Und so trug denn Johannes Gäntschow den Vikar Oldörp durch das Wasser an den Strand. Der Vikar hatte die Arme um seinen Hals geschlungen, und Gäntschow hielt mit seinen Händen die geistlichen Schinken fest. Huckepack sagt man dazu.
    Sie brauchen dort nur um die Küstennase herumzugehen, da

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