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Wir hatten mal ein Kind

Wir hatten mal ein Kind

Titel: Wir hatten mal ein Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
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Beschäftigung auf diesem Stern – hier herum muß es ungefähr gewesen sein.
    Sie suchte nach den Wagenspuren, aber der Regen hatte alles verwaschen. Sie ritt so nah an die Uferkante, daß Senta ängstlich schnaubte. Sie legte ihr die Hand beruhigend auf den Hals und sah hinunter: tief, tief drunten, unsichtbar, rauschte und murmelte das Meer. Der Absturz sah erschreckend steil aus.
    Wahnsinnig, dachte sie, vollkommen wahnsinnig. Man sollte mit solchem Menschen, und wenn er der beste Freund ist, nicht umgehen.
    Sie schauderte und ritt weiter. Sie suchte nach einer Schlucht, durch die man nach unten gelangen konnte.
    Aber wieso ist er denn so geworden? dachte sie erschreckt. Er war doch früher nicht so! Er war immer jähzornig, ja, aber dies ist doch kein Jähzorn gewesen. Dies war der vorbedachte, wahnsinnige Plan eines Menschen, für den gar nichts mehr Wert hat.
    Ein unendlich bitteres Gefühl rührte an ihr Herz. Um sie stand die ganze Welt in dichtem Nebel, der jedes Ding unwirklich machte.
    |472| Viel weiter unten fand sie einen Weg zum Strande, den wohl Fischer angelegt hatten. Sie ritt ihn hinunter und dann am Strand am Rande des Wassers zurück. Sie hielt an. Sie sah das Stück einer zerbrochenen, schwarz und rot lackierten Deichsel, vorne am Beschlag waren noch Reste von Lederzeug, durchschnittene Reste … Hier war es gewesen. Sie sah hinauf an der Steilküste. Von hier aus schien der Absturz noch grauenvoller. Es schien unmöglich, daß nur ein Fußgänger heil da hinunterkam. Und nun ein Wagen – mit zwei Pferden, mit zwei Menschen!
    Einen Augenblick schloß sie die Augen. Sie meinte, die Pferde schnauben und den Vikar schreien zu hören. Der Sand knirschte, Steine rauschten, hinter ihr murmelte das Meer.
    Was muß er gedacht haben, dachte sie traurig, als es hier abwärts ging. Er hat es gewollt, er hat von dem Absturz gewußt, er hat die Pferde hinausgejagt in das Bodenlose, in die freie Luft, und hat alles gesehen. Wie es aussehen muß in ihm. Welche Bodenlosigkeit auch in ihm, welche Leere, was für eine Öde des Herzens! Wieso? Wieso? Was hat er denn erlebt? Der Krieg? Eine schlechte Ehe? Ein gestorbenes Kind? Nun, was denn? Andere erleben noch ganz anderes. Sie sah nicht wieder zum Absturz empor, sie schnalzte leicht mit der Zunge, Senta trabte an, und nun ritt sie dahin. Etwas in Gedanken, mit vorgebeugtem Kopf, in schlechter Haltung, die Zügel lose … Stupps würde sie hart tadeln.
    Ich möchte bloß wissen, grübelte sie, warum ich eigentlich hierher geritten bin. Ich kenne doch das Pattchower Steilufer. Warum bin ich ohne jede Überlegung hierher geritten?
    Aber es war nicht bei dieser Gelegenheit, daß sie sich diese Frage beantworten konnte. Es war bei einer andern Gelegenheit, daß sie alles, alles verstand. Es ist eine seltsame Sache mit den Gerüchten, den Klatschereien, die über uns umlaufen. Sie mögen uns empören, wir können über sie lachen – sie beeinflussen uns doch. Gerüchte sind Rauch und Dunst, ein Qualm, es riecht nach etwas. Kann man darüber sitzen und fragen: Wäre es vielleicht doch möglich?
    |473| Nein, das tut sie nun doch nicht. Aber vielleicht sieht sie ihn ein wenig anders an. Sie bemerkt einen Blick des alten Dieners Eli, der von ihr zu ihm geht, und sie denkt: Jetzt hat er es sich gedacht und überlegt, ob es wahr sein könnte.
    Sie sitzt in ihrem Zimmer und singt vor sich hin. Sie singt eben, weil ihr fröhlich zumute ist. Ihr ist so – und sie bricht ab. Sie hört die beiden Mädchen im Nebenzimmer tuscheln, und sie weiß plötzlich, sie tuscheln
davon
!
    Sie sieht sich im Spiegel an, sie lächelt. Und plötzlich blüht dieses Lächeln auf, mit Staunen sieht sie ihren Mund anders, als sie ihn sonst sieht. Er scheint voller, röter, quellender.
    Aber sie schüttelt lächelnd den Kopf: Nein, nein. Der gute alte Johannes, gewiß. Freund aus den Kindertagen, aber nicht mehr, nicht mehr.
    Sie schließt die Augen. Qualm und schwelender Rauch, jawohl, es dringt durch alle Fugen, es ist unvermeidlich, man entzieht sich dem nicht. Aber das nun doch nicht.
    Und sie steht auf. Sie geht lächelnd hinunter in die Halle, wo die Männer warten. Sie summt ihr Lied auf der Treppe weiter. Sie sagt: Nun, wie ist es, gehen wir vor dem Frühstück schnell noch einmal durch den Park? Ich muß sehen, ob meine Vögel noch zu fressen haben.
    Es ist erst Mitte Dezember. Doch herrscht ein grimmiger Frost. Es hat auch geschneit, einmal getaut, wieder gefroren. Die Schneedecke ist

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