Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
Vorwürfen jener Qualität zu operieren, welche Manfreds gelebte Formen des Übermuts, der Ignoranz, der Rachsucht und der Wollust offenlegten. Hatte Manfred die vorangegangenen Lächerlichkeiten in der Zeit klarer Gedanken schnell wieder zur Seite legen können, so gelang ihm das nun nicht mehr. Bald wollte er es auch gar nicht mehr. Er wollte diese Schuld nach Möglichkeit abtragen, er wollte sich ihr stellen. Dass er damit die Hoffnung verband, sich der Schuld wegen der Ereignisse an der Mintarder Autobahnbrücke entledigen zu können, war ihm durchaus bewusst, auch wenn er diesen Kontext nicht ständig hinter seinem Rücken agieren wissen wollte.
Manfreds Erinnerungen an seine Schuld mittlerer Schwere konzentrierten sich auf diejenigen Menschen, die ihm wichtig im Leben waren. Gegenüber Ilona hielt er sich mit einer genauen Darlegung seiner vermeintlichen Vergehen zurück, lediglich über die Namen erteilte er vollständig Auskunft. Nachdem ihm wieder einmal ganz fürchterlich ein Schuldgefühl gequält hatte, machte Ilona eine anscheinend belanglose Beobachtung.
„Fehlt nur die Lehrerin“, sprach sie geheimnisvoll.
„Sag mir doch einfach, was du meinst“, reagierte Manfred unwirsch.
„Stimmt so gar nicht. Der Mann mit der Augenbinde war auch noch nicht dabei.“
„Alles klar. Jetzt bin ich schlauer.“
Ilona hatte Verständnis für Manfreds Launen. Auch diesmal ließ sie sich nicht aus der Ruhe bringen, vorerst. „Bei Jürgen hat dich was gequält, bei Aaron, beim Professor, bei Conny. Und nun die Tochter vom Nazi-Schulleiter Paul Seligen, bei Hermine Seligen.“
„Alles Leute, die...“
„...sich bei der verhinderten und tatsächlichen Silberhochzeit so gut verstanden haben“, unterbrach Ilona.
„Warum unterbrichst du mich?“
Die Hälfte des Tages war Manfred mittlerweile gereizt.
„Ich will auch mal nicht funktionieren dürfen.“
Was ist nun interessanter, fragte sich Manfred. Dass sich alle Leute, die ihn jetzt einholten, so gut miteinander verstehen oder dass Ilona zu verstehen gab, dass es Grenzen ihrer Belastbarkeit gibt?
So oder so. Seine Schuldgefühle trieben Manfred dazu, für einige Zeit wegzufahren und seine Missetaten gegenüber denjenigen, die es anging, offenzulegen. Dass würde, so seine Hoffnung, die Phase schlimmster Träume und somit auch die Gefahr, Ilona etwas Ungewolltes über Werner mitzuteilen, beenden können.
Mit seinem Entschluss fühlte Manfred sich erstmals seit Wochen frei. Und mehr, als er zu hoffen gewagt hätte, verlor die Krankheit in den folgenden Tagen ihre Macht über seine Gedankengänge. Vielleicht ist das ja eine Art Vorschuss, dachte er. Verspiele ich ihn nicht, nahm er sich vor.
*
„Wie geht es dir?“ Das echte Interesse war aus Manfreds Stimme herauszuhören gewesen.
„Ich darf nicht klagen angesichts meines Alters“, teilte der Professor mit. „Alles über 80 ist Zugabe, habe ich mal gesagt.“
Manfreds Mundwinkels verzogen sich kurz aber heftig. „Das ist keine Antwort.“
„Manfred... Du musst dich mit einer blöden Krankheit auseinandersetzen, da will ich dir nicht von meinen Luxusproblemen erzählen, ich...“
„Lass mich doch entscheiden, was Luxusprobleme sind.“
Der Professor seufzte. „Meine Wehwechen und die Tatsache, dass ich demnächst die Pflegestufe Eins beantragen werde, sollen uns aber bitte nicht weiter interessieren... Ich leide wie ein Hund, dass ich nicht erfahren werde, wie die gesellschaftliche Evolution weitergeht. Wegen sowas schlafe und träume ich schlecht, kaum zu glauben.“
„Das finde ich überhaupt nicht erstaunlich. Als ein Gesellschaftswissenschaftler mit Leib und Seele bist du mit der Gattung Mensch geradezu verheiratet.“
„Ich würde in meinem Leben gern noch des Fragens müde werden... Vielleicht sollte ich noch Buddhist werden“, meinte der Professor.
„Ach was! Die Fragen sind dein Lebenselixier, ein Geschenk.“
„Ich weiß. Ich sag doch... Luxusproblem.“
Manfred kam eine Idee zu der vom Professor erwähnten „gesellschaftlichen Evolution“ in den Kopf. „Es müsste selbstverständlich werden, dass die Zukunft zum Maßstab unserer Existenz wird. Nachhaltigkeit...“
„Lass mich bitte mit diesem Juhu-Wort in Ruhe.“
„Du weißt um den richtigen Gehalt dieses Wortes“, ließ Manfred sich nicht beirren. „Nachhaltigkeit als erstes Gebot der Menschheit. Als erster Paragraph des Grundgesetzes der Vereinigten Staaten der Welt, zusammen mit der
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